Das Fünfte Geheimnis
Besitz von Madrone, fast wäre sie zu Boden gesunken. Dies war auch ihr Land, ihre Heimat. Es war auch ihr Kampf. Eine unbestimmte Hoffnung erfaßte sie. Wenn sie so auf die Singenden blickte, verschwammen sie vor ihren Augen zu einer weißglühenden Ansammlung, und auch sie begann zu glühen. Maya hatte diesen Zustand bei Madrone immer spöttisch Aktionsfieber genannt. Eine andere Sorte von Verrücktheit, so ähnlich wie die erste Verliebtheit.
Als das Lied geendet hatte, bemerkten die Leute ihre Ankunft und strömten herbei, um sie zu begrüßen. Allen voran die Frau, die so bewegend gesungen hatte. Ihre braunen Augen lächelten, sie hatte eine ausgeprägt weibliche Figur, mit einem kleinen Hügel von Bauch unter der Brust, und eine Haut wie goldbrauner Honig. Ihr langes schwarzes Haar war elegant aufgesteckt. Wie die Königin von Spanien, dachte Madrone. Sie müßte kostbare Schildpatt-Kämme im Haar tragen und silberne Nadeln, nicht diese verrosteten Haarklammern aus altem Draht. Und blutrote Rosen. Aber nichts davon. Die Frau lächelte Madrone an, doch dann entdeckte sie Hijohn. Röte übergoß ihre Wangen.
»Willkommen«, sagte sie zu Madrone, »ich bin Katy. Das ist eine Abkürzung für Hekate. Eigentlich ist es eine Abkürzung für Katherine, aber das mußt du gleich wieder vergessen.«
»Ich bin Madrone.«
»Du bist die Heilerin. Wir freuen uns, daß du hier bist. Wir haben die ganze Zeit gewartet und gehofft.« Katy streckte ihr die Hand entgegen. Doch dann besann sie sich anders und umarmte Madrone. Madrone fühlte, wie sich ihr ganzer Körper erst versteifte, dann wieder entspannte.
Diosa! dachte sie. Wie lange ist es doch her, daß mich jemand so spontan umarmt hat? Sie empfand diese Freundlichkeit als so angenehm wie einen Schluck Wasser in der Wüste.
»Nun bin ich dran«, lächelte Hijohn und umarmte Katy. Er drückte Katy an sich, und Madrone sah zu ihrer Überraschung einen Ausdruck von Sehnsucht und Zärtlichkeit in seinem wettergegerbten Gesicht. Das war eine ganz neue Seite an ihm, von der sie nicht gedacht hätte, daß es sie überhaupt gab. Ein weicher Kern also unter einer harten Schale. Er küßte Katy um Sekunden zu lang, und Madrone wurde plötzlich vom Heimweh überwältigt. Auch Sandy hatte sie so geküßt, und Bird, sie hatte gerade erst angefangen, sich an ihn zu gewöhnen, sich bei ihm geborgen und zu Hause zu fühlen. Was hatte sie dazu getrieben, fortzugehen?
Endlich lösten sich die beiden voneinander. Katy lächelte Madrone an, ein wenig entschuldigend. »Du mußt sehr müde sein nach diesem Weg. Komm herein.«
Sie duckten sich unter einer niedrigen Haustür und betraten einen dunklen Raum. Es roch nach Erde, Öl und Mehl. Katy behielt eine Hand auf Hijohns Arm, als wolle sie sich dadurch seiner tastsächlichen Anwesenheit versichern. Madrone zitterte, plötzlich fühlte sie sich hungrig und durstig.
»Setzt euch«, bat Katy und deutete auf eine Bank vor einem alten Tisch mit Plastikdecke, Überbleibsel einer alten Welt. Madrone setzte sich dankbar, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie öffnete sie erst wieder als sie Katy zurückkommen hörte und diese ein Glas Wasser vor ihr niedersetzte. Madrone hielt das Glas eine Sekunde in der Hand, schickte ein stilles Gebet zum Himmel, dann erst trank sie, langsam, dankbar.
»Wir haben genug Wasser hier«, sagte Katy, »wir haben eine geheime Wasserleitung an die City-Leitung angeschlossen. Trinkt also, so viel ihr wollt.«
Das waren Worte, die Madrone in diesem Zusammenhang schon lange nicht mehr gehört hatte: Genug Wasser! Dennoch genoß sie jeden kleinen Schluck. Katy setzte ihr ein neues Glas vor.
»Du trinkst wie jemand aus den Bergen«, lächelte sie.
»Sie ist aus den Bergen!« erklärte Hijohn. Er saß neben ihr am Tisch und trank sein Glas genauso langsam und genußvoll wie Madrone. Sein Blick hing an Katys Bauch. »Wie geht es dir? Bist du okay?«
»Ja«, sagte Katy einfach.
»Wirklich?«
»Ja.«
Hijohn drehte sich zu Madrone um: »Würdest du sie untersuchen? Damit ich ganz sicher bin.«
Madrone lächelte. Typisch nervöser, angehender Vater, dachte sie. Aber warum auch nicht. Warum sollte Hijohn nicht auch sanfte Seiten in seinem Wesen haben?
»Natürlich. Nun, Katy? Ich werde ein Auge auf dich haben. Und wenn du für die Geburt Hilfe brauchst, das ist mein Spezialfach. Ich hole liebend gern Babys auf die Welt.«
Hijohn und Katy warfen sich einen freudigen Blick zu. Erleichterung schwang darin mit,
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