Das Fünfte Geheimnis
Plötzlich war der Eingang frei. Raffael hörte auf zu schießen, gab Madrone Zeichen. Unvermittelt standen sie auf der Straße im Freien.
Sie rannten dicht an der Hausmauer, halb gebückt. Raffael sicherte nach allen Seiten. Dann eine Explosion. Katy, Poppy und all die anderen – hatte auch nur einer von ihnen überlebt?
Vor ihnen war die Straße übersät mit Trümmern. Umgestürzte Hausmauern, Betonbrocken von einer gesprengten Überführung. Raffael leitete Madrone von Häuserblock zu Häuserblock, von Straßenzug zu Straßenzug. Gebückt rannten sie vorwärts. Sie waren schon fast auf der anderen Seite, als sie eine Stimme hörten: »Halt!«
Keine zwanzig Meter von ihnen entfernt standen fünf Soldaten und richteten ihre Gewehre auf sie. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, stieß Raffael Madrone zu Boden und feuerte im gleichen Augenblick. Kugeln pfiffen und ein Laser wirbelte eine Dreckfontaine auf.
»Weiter!« rief Raffael, »tief ducken!«
Madrone rannte los, halb laufend, halb kriechend. Instinktiv suchte sie sich einen Weg von Deckung zu Deckung.
»Weiter!«
Raffael war plötzlich wieder neben ihr. Sie rannten geduckt. Die Angst half ihr, Schritt zu halten. Ein großes Gebäude tauchte vor ihnen auf. Das Eingangsportal war mit Brettern vernagelt. Raffael rannte zielsicher auf die Bretterwand zu, griff durch eine Lücke und riß eine verborgene Pforte auf. Sorgfältig schloß Raffael die geheime Pforte wieder. Dann rannten sie einen schmutzigen dunklen Korridor entlang.
Am Ende führte eine schmale Treppe hinunter in den Keller. Vorsichtig tappten sie weiter bis zu einer Falltür. Raffael zog sie auf und schob Madrone hinunter. Sie fühlte die Sprossen einer Metalleiter unter ihren Füßen. Langsam kletterte sie tiefer. Raffael folgte dichtauf, nachdem er die Falltür geschlossen hatte. Jetzt war auch der letzte Rest Dämmerlicht verschwunden. Verzweifelt kletterte Madrone von Sprosse zu Sprosse tiefer. Angstvoll fragte sie sich, wie tief dieses Loch wohl war und wie lange ihre Arme sie noch würden halten können?
Endlich spürte sie wieder festen Boden unter den Füßen. Vorsichtig ließ sie die Leiter los und trat einen Schritt rückwärts. Gerade weit genug, sonst wäre Raffael ihr auf die Füße gestiegen. Sicher wie eine Fledermaus fand er seinen Weg in der Dunkelheit. Madrone stolperte ihm nach.
Nach einer ganzen Weile sah sie Licht in der Ferne. Sie kamen durch einen riesigen Torbogen, der sehr alt aussah, Säulen flankierten ihren Weg, über ihnen riesige Gewölbebogen. Relikte aus einer anderen, versunkenen Welt. Madrone konnte sich nicht vorstellen, wann das hier errichtet worden war, noch wer so etwas gebaut haben mochte. Vereinzelt hingen Vorhänge zwischen den Säulen und grenzten so Räume ab. Hier und da waren Vorhänge halb geöffnet, und sie konnte Lager sehen mit Teppichen, Kissen und Decken. In der Mitte brannte ein Feuer. Über der Feuerstelle war die Decke schwarz verrußt. Ringsumher waren unbenutzte Flächen, weite Flächen grauen Betonbodens mit brüchigen Linien alter Farbe.
»Willkommen im Himmel«, sagte Raffael.
Er führte sie zum Feuer. Große Lehnstühle und Sofas standen hier im Kreis um das Feuer. Sie gesellten sich zu der kleinen Gruppe, die vor einem Kessel am Feuer saß.
Madrone konnte nicht sagen, ob die Person, die vor dem Kessel kauerte, ein Mann oder eine Frau war. Die Stimme klang hell und melodisch. Als sie Raffael sah, fragte sie: »Was ist passiert?«
»Die Ratten wurden ausgeräuchert. Schlechte Nachrichten.«
»Alle?«
»Scheint so. Ich sah, wie einige erschossen wurden. Auch Littlejohn aus den Bergen. Vermutlich hat es auch Gabriel erwischt.«
Littlejohn, Madrone kämpfte mit den Tränen, Littlejohn! Sie konnte seinen Tod immer noch nicht glauben. Es kam einfach zu plötzlich. Wie konnte er in der einen Minute da sein und in der nächsten tot? Maya, Madrina, was habe ich falsch gemacht? War ich nicht vorsichtig genug, hätte ich mich besser raushalten sollen aus dieser grausamen Welt hier?
»Ich habe Hijohn gesagt, daß es dumm ist, all die Leute am selben Platz zu versammeln«, fuhr Raffael fort. »Die Stewards kamen mit einem Hubschrauber.«
»Woher, zum Teufel, haben die einen Hubschrauber?« staunte jemand in der hinteren Reihe.
»Oh, sie haben im Tal ein ganzes Arsenal. Aber sie können damit nur fliegen, wenn das Wetter wirklich gut ist«, sagte die Frau am Wasserkessel.
»Dieser Hubschrauber wird jedenfalls nie wieder fliegen«, meinte
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