Das Fünfte Geheimnis
Raffael, »und auch die Ratten nicht, und die Hill-Boys und die anderen seelenlosen Typen dort. Die Heilerin hab' ich gerettet. Dies ist sie.« Er machte eine Bewegung Richtung Madrone.
»Hello«, sagten einige.
Madrones Augen begannen, sich an das Zwielicht zu gewöhnen. Sie war von einer Gruppe Menschen umgeben, wie sie noch nie welche gesehen hatte. Alle waren sie jung. Kaum einer konnte älter als zwanzig sein. Fast alle waren blond, so wie Raffael. Fast alle waren groß und schlank, von androgyner Statur, die Frauen muskulös, die Männer mit weichen Gesichtszügen. Sie alle hätten verwandt sein können. Oder, wie sie mit einem spöttischen Anflug dachte, für eine Hunderassen-Schau gezüchtet sein, Windhunde oder Afghanen. Es gab einige Rothaarige, und einige Frauen mit glattem schwarzem Haar und goldener Haut. Drei oder vier waren dunkelhäutig, mit schwellenden Muskeln, die sie an Isis erinnerten.
»Möchtest du irgend etwas?« fragte einer von ihnen Madrone. »Wasser? Davon haben wir genug. Essen? Wir haben hier Köstlichkeiten, die du vielleicht noch nie gekostet hast. Etwa Schokolade. Sex? Einer von uns wird dich gern glücklich machen! Wie möchtest du es denn gern? Mit Männern? Frauen? Kindern? Da sind einige Kids, die sind ganz super!«
Madrone war nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte. Am liebsten hätte sie sich hingeworfen, geschrien und wäre nicht wieder aufgestanden. Der Kummer über Littlejohns Tod überwältigte sie wieder. Jetzt zu Hause sein, bei Bird, Nita und Holybear, bei Sage und Maya, die an ihren Memoiren schrieb. Und was war mit Katy und Poppy passiert? Waren sie tot, wie so viele andere?
»Wasser«, bat sie.«Macht ihr gerade Tee? Dann hätt' ich gern welchen.«
Der Tee kam auf einem silbernem Tablett. Die Tasse, bemerkte Madrone zu ihrem Erstaunen, war echtes Wedgewood Porzellan. So fein wie das Porzellan, das Johanna früher gesammelt hatte. Irgendwo im Gewölbe mußte es sogar einen Kühlschrank geben, von dort kam sicher die gekühlte Schlagsahne, und jemand bot ihr auf einem Tablett köstliche, frische Kekse an. Der Tee duftete, und während sie daran nippte, erkannte sie einen Geschmack, an den sie sich nur dunkel aus ihren Kindertagen erinnerte. Damals hatte Maya soetwas am Nachmittag getrunken. Dann fiel ihr der Name wieder ein: Earl Grey Tea. Importierter Schwarztee. Woher in aller Welt hatten die Leute hier soetwas?
Sie sah von ihrer Teetasse auf und sah einige Kinder an der Säule stehen. Sie kicherten und starrten sie neugierig an. Ebenso wie die Erwachsenen waren auch die Kinder wohlproportioniert, großäugig und hatten feine Gliedmaßen. Es schien, die Besten der weißen Rasse waren gesammelt worden, damit sie zu dem feinen Porzellan paßten.
»Woher habt ihr diese Sachen?« fragte Madrone verwundert, »diesen Tee und die Kekse?«
»Überfälle«, sagte Michael, der sehr gut als Raffaels Zwillingbruder hätte durchgehen können. Er war bei ihrem Heiler-Kursus gewesen, doch bald nicht mehr gekommen. Madrone erkannte ihn.
»Aber woher kommen die Sachen? Treiben die Stewards denn noch Handel mit Asien, Afrika oder Europa?«
»Keine Ahnung«, meinte Michael, »wir haben das Zeug einfach nur mitgehen lassen.«
»Aber ich weiß es«, mischte sich eine junge Frau ein. Ihre Haut war die dunkleste, die Madrone jemals gesehen hatte, sie schimmerte im Zwielicht wie schwarzer, kostbarer Samt. Ein knappes Kleid aus silbriger Seide betonte ihre biegsame Figur. Ihre Haare, seltsamer Kontrast, waren dagegen lang, glatt und platinblond. Kann das Haar echt sein? überlegte Madrone, ist es das Ergebnis einer gezielten Menschen-Zucht?
Mit einer aufreizenden Kopfbewegung warf die Frau ihre Haare zurück. Sie lächelte Madrone vielversprechend zu. »Ich habe einem Mann gehört, der im Schiffshandel tätig ist. Die Sachen kommen immer noch aus Übersee, mit großen Schiffen, falls sie die stürmischen Überfahrten schaffen. Aber es sind große Kostbarkeiten, sehr wertvoll. Teurer als eine ganze Jahresration Wasser. Macht schon Spaß, so etwas zu erbeuten.«
Sie sprachen über Sachen, die sie bei Überfällen erbeutet hatten, wie wertvoll vieles davon war und was sie alle gern aßen. Madrone hörte ihnen zu. Es lenkte sie ab von dem tiefen Schmerz, der sie zu überwältigen drohte. War Katy tot? Nein, das durfte nicht sein. Sie sollte sich jetzt für die Geburt vorbereiten, sollte neues Leben gebären, nicht tot sein. Und ich, warf sich Madrone vor, habe sie unglücklich
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