Das Fünfte Geheimnis
gemacht, sie und Hijohn auseinander gebracht. Vielleicht hätte er sie schützen können, wenn er dabei gewesen wäre. Vielleicht...
Der Vorhang öffnete sich und Gabriel kam herein. Sie war verschwitzt und atmete schwer. Ihre lilienweiße Haut war rötlich überhaucht vor Anstrengung.
»Du hast es geschafft«, sagte Raffael, »himmlisch!«
»Gib mir Wasser«, sagte Gaby.
»Was ist passiert, nachdem wir draußen waren?«
»Der Hubschrauber explodierte. Alles verbrannte. Alles ist nur noch Asche. Einige Leute kamen noch raus, die anderen blieben drin. Littlejohn wurde erschossen. Ich sah sein Gehirn an der Wand kleben. Sie haben Katy und dieses Angel Kid geschnappt und irgendwohin geschafft. Mich haben sie auch geschnappt. Aber ich bin wieder entwischt.« Sie grinste.
Madrone hörte schweigend zu. Aber innerlich stöhnte sie auf. Littlejohn! Er war immer so freundlich zu ihr gewesen. Immer so hilfsbereit. Und er hatte Bird gekannt! Nun erschien ihr Bird weiter entfernt als jemals zuvor. Gab es ihn überhaupt noch? Aber um Littlejohn zu trauern, war hier ein befremdlicher Luxus. In dieser Welt, El Mundo Malo, mußte sie sich nur fragen, was mit Katy und Poppy geschehen sein mochte?
»Können wir Katy und Poppy nicht helfen?« fragte sie in die Runde. »Ihr macht doch ständig Überfälle, können wir sie nicht rauben?«
Raffael lächelte und zuckte mit den Achseln: »Was glaubst du, wo sie sind?«
»Katy haben sie vermutlich in ein Lager gesteckt, als Zuchtstute«, mutmaßte Michael.
»Nein«, meinte Raffael, »schwanger wie sie ist, ist sie dafür im Moment nicht zu gebrauchen. Sie wird eher ins Forschungs-Zentrum geschafft. Einige nette Experimente mit ihr machen.«
»Wo ist denn das?« fragte Madrone.
»Oben bei der Universität. Im Medizin Center.«
»Und Poppy?«
»Die wird bestimmt nicht in ein Lager gesteckt«, grinste Gabriel, »irgend ein großer Steward-Boß wird ein kleines Privat-Geschäft machen.«
»Aber wer?« fragte Raffael nachdenklich, »wer liebt frisches Fleisch und kann zahlen?«
»Vielleicht Marichal vom Spring Canyon. Oder Stebner, unten am Strand. Oder einer der großen Fernseh-Bosse?«
»Nee, das werden die kaum riskieren. Die kaufen heutzutage alle bei den staatlichen Stellen. Die Sache ist viel zu heiß.«
»Eigentlich könnte jeder der Käufer sein«, stimmte Gaby zu, »laßt uns ein paar Leute losschicken, die das auskundschaften. Sie sollen die wichtigsten Personen überprüfen. Ich bin gerade in der richtigen Stimmung für einen kleinen Rachezug.«
»Wir haben ein paar neue Gewehre«, sagte Raffael, »die könnten wir dann ausprobieren.«
Die Kundschafter entpuppten sich als kleinwüchsige Schwarze. Sie sahen gemein und gewöhnlich aus. Madrone erfuhr, daß sie allein von der Gnade der Angels lebten, nur von ihnen bekamen sie Wasser und Lebensmittel. Sie wurden losgeschickt.
»Erzähl' uns vom Norden«, bat Gaby, »ich höre deine Geschichten so gern.«
»Ich bin eigentlich nicht in der Stimmung«, wehrte Madrone müde ab, »ich bin zu unglücklich.«
»Habt ihr gehört, daß die Armee eine Siegesmeldung vom Einmarsch im Norden veröffentlicht hat?« fragte Gaby.
»Würdest du ihnen glauben?« gab Michael spöttisch zurück.
Gaby hob die Schultern. »Es ist eigentlich logisch, daß die Stewards gewinnen, wenn der Norden nicht einmal eine eigene Armee hat.«
»Hat er nicht, und wird er auch nie haben«, sagte Madrone erregt, »wir wollten nicht, daß Menschen hungern, um einen Krieg zu finanzieren.«
»Hier hat das niemanden gestört«, sagte Raffael spöttisch, »und euch hat's auch nichts gebracht.«
»Also, erzähl' deine Stories«, bettelte Gaby, »auch wenn vielleicht alles in die Luft gegangen ist. Ich höre gern, wie schön es dort war. Und es vertreibt uns die Zeit, bis die Späher zurückkommen.«
»Wir könnten auch schlafen«, entgegnete Raffael.
»Ach was, fang an!«
Ich kann es nicht ertragen, dachte Madrone, jetzt mein Märchen zu erzählen. Ich glaube selbst nicht mehr daran. Aber Gaby war so eifrig. Sie sah so jung aus, so unschuldig, so harmlos, wie ein Kind, das um eine Gute-Nacht-Geschichte bettelte. Seufzend begann Madrone zu erzählen.
»Bei uns im Norden läuft das Wasser in kleinen Bächen durch die Straßen. Enten tummeln sich, Kinder schwimmen darin und fangen Fische. Niemand stiehlt Wasser, denn es ist genügend da, und es gehört allen. Jeder hat ausreichend zu essen und zu trinken...«
✳✳✳
Das Landhaus leuchtete rosa
Weitere Kostenlose Bücher