Das Fünfte Geheimnis
wird«, explodierte Cress. »Auch wenn sie uns alle töten, einen nach dem anderen. Wir sollten kämpfen. Alles andere wäre nur eine Rechtfertigung für Verrat.«
»Dann bin ich eben ein Verräter, Cress. Möchtest du mich eigenhändig niederknallen, oder willst du die Wild Boar People dafür holen? Vowärts, Mann, mach los!«
»Nein, Bird, wir erschießen dich nicht«, sagte Lily bebend und legte ihre Hand auf Cress' Schulter, der etwas entgegnen wollte. »Still, Cress. Dieses Treffen ist beendet. Bird, wir haben für dich einen Platz an unserer Tafel gedeckt, komm, iß mit uns gemeinsam.«
Tränen schossen ihm in die Augen. Abrupt drehte er sich um und ging. Die Wächter folgten ihm wie wachsame Hunde. Er hatte Mühe, nicht in Schluchzen auszubrechen. Sam und Lily hätten ihn sicherlich tröstend in die Arme genommen, und seine Wächter hätten sie womöglich niedergeknallt. Und was sollte dann aus Rosa werden? Und was würde überhaupt geschehen? War es nicht Selbstbetrug, zu glauben, seine Handlungen könnten irgendwelche Auswirkungen auf ihrer aller Schicksal haben? Oh, es war doch die älteste Falle der Welt, er wußte es, und er tappte hinein.
Leute gingen an ihm vorüber. Er sah sie nicht an. Seine Wächter folgten ihm, aber sie hielten jetzt etwas Distanz, ließen ihn allein gehen. Unberührbar.
Kapitel 26
Heute«, sagte Madrone, »wollen wir die Verankerung üben.« Ringsum erwartungsvolle Blicke. Sie saßen im Innenhof, im Schatten der Sonnensegel. Die Sommerhitze lastete schwer. Im Hausinneren war es schlicht unerträglich. Poppy lag in einer Ecke des Hofes und machte ein Mittagsschläfchen wie die anderen Kinder.
Das Sonnenwendfest war gerade erst vorüber. Wenn es jetzt schon so heiß war, wie würde dann der August werden? Lieber nicht darüber nachdenken. Madrone hatte schon so vieles ertragen, mehr als sie sich jemals vorzustellen gewagt hätte. Sie würde also auch dies überstehen. Für das Sonnenwendfest hatte Madrone ihre Phantasie gewaltig anstrengen müssen. Dicke Blumenkränze, geschmückte Häuser, nächtliche Freudenfeuer und Festmähler im Freien, wie bei ihnen im Norden, das war hier nicht möglich. Feuer zu machen, konnten sie nicht riskieren und Blumen gab es hier sowieso nicht. So hatte sie sich darauf beschränkt, eine Sonne aus Blumensamen in den Hof zu streuen. Lärmend hatten sich die Vögel um diese Leckerbissen gebalgt.
Wie mochten sie das Sonnenwendfest diesmal zu Hause gefeiert haben? Im Fernsehen wurde der Einmarsch der Stewards als überwältigender Erfolg gefeiert. Aber es wurden keine Bilder von diesem Krieg gezeigt, es gab nur Presse-Erklärungen der Militärs. Madrone konnte diesen Nachrichten nicht recht glauben. Aber die Angst war da, die Nachrichten könnten wahr sein. In ihren Träumen sah sie Schießereien und Tote. Lilys Gesicht erschien ihr. Doch es war nur undeutlich, und es gab nichts preis.
Ich sollte heimgehen, dachte sie. Was mag aus Maya, Bird und den anderen geworden sein? Ich sollte bei ihnen sein, und ihr Schicksal sollte auch meins sein. Aber ich werde hier gebraucht. Ich kann diese Arbeit nicht einfach unbeendet hinwerfen.
Während der Wochen und Monate, die Madrone hier unterrichtet hatte, waren einige abgesprungen, andere konnten aus verschiedenen Gründen nicht mehr teilnehmen. Dafür waren Neue dazugestoßen. Jetzt hatte sie Teilnehmer aus den verschiedensten Gruppen: aus City Gangs, von den Angels, von den Hill-Boys und einige aus den benachbarten Vierteln. Littlejohn war aus den Bergen gekommen, er brachte Begood mit, der eine überraschende Begabung zum Heilen an den Tag legte. Auch Raffael und Gabriel, die eiskalten Blonden von den Angels, hatten erstaunlich sensitive und geschickte Hände.
Madrone war überrascht, wieviel ihre Schüler inzwischen wußten. Hygiene, Erste Hilfe, Akupunktur waren ihnen so geläufig wie die richtigen Griffe, um Schmerzen zu lindern. Auch die Grundzüge des Ch'i, und der Einsatz bestimmter Medikamente waren ihnen bekannt. Sie wußten, wie eine Booster-Entziehungskur einzuleiten und weiterzuführen war. Nun wollte Madrone sie tiefer in die Geheimnisse des Heilens einführen und sie lehren, die versteckten Energien des Körpers zu erspüren und zu steuern.
»Das Ankern ist eine Methode, um schnell verschiedene Stadien der Trance zu durchlaufen«, fuhr Madrone fort, »dabei wird jede Stufe mit einem bestimmten Bild oder Wort verkettet und mit einer bestimmten Berührung. Sucht euch jetzt jeder einen
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