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Das Fünfte Geheimnis

Titel: Das Fünfte Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Starhawk
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fortsetzt. Denk nicht an die Kälte und wie die Wärme des Körpers in diesem eisigen Bad verströmt. Einfach nur atmen und an das Leben denken. Teetrinken bei Isis auf dem Boot. Schmutz und Durst in den Canyons, Sehnsucht nach Wasser, Gebete um Wasser. Denk an das Bienengesumm, an die Bienen, die ausschwärmen, um Nektar zu sammeln. Ja, ich fühle die blumenförmige Bienen-Narbe auf meiner Stirn. So als hätten die Bienen sich dort versammelt. Wären hier Bienen auf dem Wasser, ich könnte sie immer noch füttern. Ich bin deine Wasserblume, Mutter, sei gnädig mit mir. Ich werde leben in diesem Wasser, so lange ich kann, nichts in mir will sterben.
    Sie schloß die Augen. Sie empfand ein leichtes Kribbeln auf der Stirn, wie von vielen Bienenfüßen. Doch sie hörte nur das Rauschen des Meeres, und wenn sie die Augen öffnete, sah sie nichts als das Blau des Wassers und das fahlere Blau des Himmels und wie sie, trieb die Sonne auf den Wellen nach Westen.

    ✳✳✳

    „Na, du hast ganz schön Probleme, Mädchen“, sagte Johanna, „wie oft habe ich dir schon gesagt, halte dich vom Wasser fern? Warum hörst du auch nicht auf mich?“
    Madrone hatte die Augen geschlossen. Sie wollte den Sonnenuntergang nicht sehen. Und sie wollte auch nicht wissen, von wo Johanna zu ihr sprach. Zweifellos war sie ganz in der Nähe. Ich bin schon fast auf der anderen Seite, dachte sie erschöpft.
    „Habe ich dir nicht immer gesagt, daß du jemanden brauchst, der dir den Rücken freihält?“
    Vielleicht sollte ich die Augen öffnen, dachte Madrone. Wenn dies der letzte Sonnenuntergang in meinem Leben ist, sollte ich ihn nicht versäumen.
    „Antworte mir, Mädchen!“
    „Hilf mir, Johanna. Sei lieb, bitte!“
    „Dir helfen? Ich habe es wieder und wieder versucht. Aber du verschwendest deine Kräfte an Dinge, die zu schwierig sind für dich.“
    Aber meine Augenlider sind zu schwer. Dennoch sehe ich die untergehende Sonne, ein rotes Glühen hinter meinen Augenlidern.
    „Geh weg, Johanna. Geh weg. Ich will meine Mutter, meine richtige Mutter. Warum kommt sie nicht zu mir?“
    Warum kann ich mich nicht an ihr Gesicht erinnern, an ihre Stimme, statt immer nur an die eisige Kälte ihres toten Körpers? Mutter, wo bist du?
    Madrone lauschte. Doch sie hörte nur den Wind und das Meer, das ihr in den Ohren tobte.
    Warum läßt du mich hier allein? Kein Wort, nicht einmal ein Wispern als Antwort. Mutter, werde ich dich finden nach all diesen Jahren? Und was werde finden? Ich kann mich nicht an dich erinnern. Wie hast du gerochen, wie waren deine Berührungen, und hast du jemals mit mir gesprochen? Hat es dich überhaupt gegeben?
    Aber nun erinnere ich mich. Du hast mir gesagt, ich solle mich verstecken. Und ich versteckte mich. Ich konnte dich schreien hören. Und die Männer lachen. Aber ich konnte dir nicht helfen. Dann warst du kalt und starr und voller Blut, und ich dachte, ich hätte dich verletzt. Ich möchte davon reingewaschen werden. Schau, Mutter, Wasser läuft aus meinen Augen. Ich habe nie um dich geweint. Und nun laufen heiße Tränen über meine kalten Wangen, salzige, wie das Wasser, das mich trägt. Ich glaube, du bist hier, ganz nah. Du mußt hier sein, wo denn sonst. Wie kann ich diese Erinnerung aus meinem Gedächtnis löschen, damit ich zu dir zurückkehren kann? Ich möchte dich ergreifen, aber mein Arm ist so schwer, zu schwer. Du mußt mir glauben, daß ich dich will, daß ich mich öffne.
    Doch sie öffnete sich nur dem Wasser. Es rann ihr aus den Augen, bedeckte ihr Gesicht. Wasser überall auf ihr, in ihr, es durchdrang ihre Lungen, ihr Gehirn, spülte durch ihre Erinnerungen. Reinigung. Madrone öffnete sich weit, öffnete ihr Inneres, wurde eins mit den Wogen. Wie eine klare Brise durchwehten sie ihre Lungen. Wenn das der Tod ist, dachte sie, dann ist das nicht so übel. Ein sauberer Tod im Wasser, kein Blut, keine Schmerzen, nur ein Ritt auf den Wogen, den Wogen des Lebens, den Wellen aus Krankheit und Tod. Die Ströme der Lebensenergie wie Ebbe und Flut, ein großer Mutterleib, der nimmt und gebiert, und der Erinnerungen hervorbringt.
    So ist es also, das Einswerden mit der Göttin. Aufgehen im Wasser, im Wasser des Lebens und des Todes und allem, was dazwischen geschieht, Freude und Schmerz. Der Schmerz meiner Lungen. Und der Geist, der sich mit beiden Händen ans Leben klammert, während der Tod den Griff lockert. Mein Schmerz, der Schmerz meiner Mutter, es ist alles dasselbe. Die schrecklichen Schmerzen

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