Das Fünfte Geheimnis
viel leichter als die gefährliche Brücke über den Freeway, machte sie sich Mut, obgleich das Wasser ihr Angst machte. Sie schauderte bei dem Gedanken, hineinzufallen. Nicht, weil es vielleicht kalt war oder verseucht. Nein, es waren die verborgenen Gefahren, Häuserleichen und die Gebeine der Ertrunkenen, Geheimnis und Tod. Madrone ging schneller, das Wasser war ihr auf den Fersen, leckte sich schon die Lippen. Wieder ein Ruf, lauter. Und nun war der Pier zuende. Vor ihr nur noch Wasser und Himmel.
Das ist nun das Ende, Papa. Du mußt es sein. Du bist aus dem Schatten der Erinnerungen an Mutter gekommen. Wer sonst spricht in der lieben alten Sprache von Guadeloupe zu mir? Ich weiß eigentlich nicht sehr viel von dir, Vater, aber du warst auch so ein Hill-Boy, oder? Was tut ein Revolutionär, wenn das Ende nah ist?
„Haz lo que hay que hacer.“ Tu, was zu tun ist!
Zitternd schleuderte Madrone ihre Schuhe von den Füßen und riß sich die Kleider vom Leib. Dies ist der dunkle Ort, an dem ich nicht sein möchte. Wieder ein Ruf von hinten. Sehr nahe. Viel zu nahe. Madrone sprang.
Die Kälte raubte ihr fast die Besinnung. Sie hielt den Atem an und tauchte so lange und so weit sie nur konnte, bis sie auftauchen mußte, um nach Luft zu japsen. Die zerstörten Deiche wirkten wie Wellenbrecher. In ihrem Umkreis war das Wasser ruhiger. Aber sie saß in der Falle. Sie konnte die Soldaten auf der Uferpromenade und der Deichkrone sehen. Schüsse! Laser zielten auf sie. Sie holte tief Luft und tauchte erneut. Überantwortete sich der Strömung, die sie mit sich riß. Sie machte heftige Schwimmzüge, um der tödlichen Strömung zu entkommen. Ruhig, ganz ruhig, befahl sie sich, keine Panik. Angst bringt dich nur um! Oh Yemaya, Mutter des Ozeans, beschütze mich, trage mich fort von hier. Ich bin dein! Rette mich, Yemaya!
Und plötzlich war sie draußen im offenen Wasser, die Strömung ließ nach, und sie schoß an die Oberfläche und rang nach Luft. Die gewaltigen Wogen des Ozeans mit mächtigen Schaumkronen warfen sie auf und nieder. Madrone erinnerte sich, wie sie als Kind am sauberen Strand von Sonana Beach gewesen war. Du mußt den Wellen begegnen, hatte Rio gesagt. Versuch' nicht, diese Wellen zu überwinden. Das schaffst du nie. Tauche direkt hinein. Maya hatte daraus einen Leitspruch fürs ganze Leben gemacht. Also los, Madrone, das kannst du auch! Geschmeidig tauchte sie unter der nächsten herandonnernden Woge hindurch und kam wieder hoch, holte tief Luft, und da war schon die nächste Wasserwand. Tauchen! Schwimmen, schwimmen, schwimmen! Auftauchen, tief Luft holen, und wieder kam eine Woge. Tauchen, schwimmen, Luft holen, tauchen... Madrone tauchte, bis sie vor Erschöpfung am liebsten losgeheult hätte.
Doch dann, ganz plötzlich, war sie jenseits der Brandungszone. Die lange Dünung des Ozeans wiegte sie auf und ab. Madrone fühlte sich plötzlich warm und stark, und wie zur Bestätigung hob sich der Nebel über dem Wasser und gab einen blauen Himmel frei. Sie hatte es geschafft! Sie war entkommen. Ihr war, als könnte sie ewig weiterschwimmen. Die Küste entlang nach Norden, bis dorthin, wo die Berge sich zu grünen Hügeln abflachten. Von dort aus würde sie schon zu den Canyons finden. Wie weit mochte das sein? Fünf Meilen? Zehn? Würde sie das schaffen? Vielleicht, wenn sie langsam schwamm, ihre Kräfte gut einteilte und sich Zeit ließ.
Das Meer ist Ursprung allen Lebens. Sie erinnerte sich an die uralten Geschichten aus dem Mittelmeerraum. Dort waren viele, viele Frauen Hand in Hand ins Wasser gegangen, um den Tod zu finden. Sie wollten lieber im Meer ertrinken, statt als Hexe auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen! Vielleicht war einigen dieser Frauen die Flucht geglückt? Vielleicht waren auch sie in die Freiheit hinausgeschwommen, so wie ich jetzt, dachte sie.
Langsam neigte sich die Sonne dem Westen zu.
✳✳✳
Kurz vor Sonnenuntergang wurde Madrone klar, daß sie ein Problem hatte. Seit Stunden war sie geschwommen. Nun kroch die Kälte durch ihren Körper. Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie schon Richtung Norden gekommen war. Unmöglich es zu schätzen. Die Strömung hatte ihr manchmal geholfen, die Klippenküste lag hinter ihr. Hier gab es nur wenige sanfte Strandabschnitte. Ein oder zwei kleinere Flüsse mündeten ins Meer, falls sie überhaupt Wasser führten. Wenn sie eine solche Flußmündung erreichen konnte, und von dort aus in die Berge fand...
Die Nacht brach herein. Selbst wenn
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