Das Fünfte Geheimnis
Nullneun ruckartig seinen Fuß in die Magengrube, und mit einem weiteren Satz schlug er ihm das Messer aus der Hand. Es flog klirrend über den Fußboden.
„Hör' auf!“ sagte Bird langsam und leise. „Ich habe schon ganz andere Kerle fertiggemacht. Es ist mir egal, ob du aus dem Lager kommst. Ich komme von der Straße, Mann. Ich bin des Teufels Lieblingssohn. Ich bin der Bruder von fünftausend Teufeln. Ich vernasche Kerle wie dich zum Frühstück.“ Soviel zum gewaltfreien Widerstand, dachte er erschöpft. Und plötzlich merkte er, daß er lächelte. Gebt mir nur die Gelegenheit, und ich prügele aus jedem dieser Kerle hier die Scheiße raus. Und wenn er ein Gewehr hätte, könnte er es gleich auf des Generals Kopf ausprobieren bis sein Gehirn herausspritzt...
Aber eigentlich wollte er diese Kerle gar nicht töten. Sie hatten alle ein schlimmes Schicksal. Und nachdem er ihren Anführer zusammengeschlagen hatte, würden sie sicher seine besten Freunde sein. Diese Männer waren so, das wußte Bird.
Auf merkwürdige Weise fühlte sich Bird mit diesen Menschen sogar verbunden. Hatte er nicht den Kreis von Liebe, Freundschaft und Gemeinschaft verlassen? Und diese Männer kannten so etwas überhaupt nicht. Was sie über ihre Kindheit und Jugend erzählten, war haarsträubend. Sie prahlten und wetteiferten, wer von ihnen als Kind mehr Prügel bekommen hatte. Sie waren alle gemeinsam aufgewachsen. Seine Einheit stammte fast geschlossen aus einem Lager im Süden, sie waren gemeinsam trainiert worden, das schuf eine Art von Zusammengehörigkeitsgefühl.
„Traue keinem außerhalb der Einheit!“ warnte ihn Nullneun. Es war wie Bird vermutet hatte. Die Schlägerei war Beginn einer Freundschaft. Nullneun adoptierte ihn quasi, blieb ständig an seiner Seite. Bird verriet ihm einige kleine Kampftricks, im Gegenzug gab Nullneun ihm Informationen. „Halte dich besser an unsere Einheit, unseren Männern kannst du vertrauen. Deine Einheit ist wichtig für dich. Ohne sie bist du nichts. Wir halten zusammen – bis in die Hölle.“
Die Diskussion auf der Plaza ging ihm nicht aus dem Kopf. Hatte Lily recht? War es möglich, diese Menschen zu transformieren? Mitleid schien jedenfalls aus diesen Typen herausgezüchtet - oder herausgeprügelt worden zu sein. Sie würden kämpfen bis zum Tod und jedes Mitglied der Einheit nach außen hin verteidigen. Doch untereinander schien ihr größtes Vergnügen darin zu bestehen, sich gegenseitig zu quälen, zu verletzen oder zu demütigen, im großen wie im kleinen.
„He, du verdammter seelenloser Teufelsficker, leck mich am Arsch!“
„Ich brech' dir das Genick, du fette Sau!“
„Wichser, Hurenbock!“
Trotzdem waren sie für Freundlichkeit nicht ganz unempfänglich. Nullneun zeigte so etwas wie Sympathie für Bird, was dieser dankbar registrierte. An schlimmen Tagen, wenn das tägliche Fegefeuer im Park vorbei war, lag Bird schwindlig vor Haß auf seinem Strohsack. Dann kam Nullneun und setzte sich zu ihm.
Es half nichts, daß Bird fauchte: „Laß mich allein.“ Nullneun ließ sich nicht wegschicken.
„Laß' dich nicht unterkriegen“, meinte er zu Bird. „Ein guter Wächter wird man nur durch härtesten Schliff. Wir alle haben das erfahren. Du mußt über diesen Punkt bei dir selbst hinauskommen, wo du noch denkst, daß du alles kontrollierst.“
Bird sah amüsiert zu ihm auf. In diesem einen, kurzen Moment verstanden sie sich, seelisch und geistig. In diesem Moment verzieh er Nullneun viel.
„Aber ich zerbreche“, stieß Bird hervor.
„Wir zerbrechen alle. Mann, ich weiß, was du denkst, wir alle denken dann ähnlich. Jeder glaubt, er hält durch, aber keiner hält durch. Alle zerbrechen. Sobald du das weißt, gibt es dir auch Zuversicht, wenn du dran bist, jemanden fertig zu machen. Du weißt, er wird zusammenbrechen, gleichviel was er tut, sagt oder denkt. Du brauchst nur zu warten, ganz ruhig zu warten.“
Wird dies mit mir passieren, fragte sich Bird verzweifelt. Werde ich auch zu einem Folterknecht?
„Ich erkläre dir, wie das geht. Du bekommst einen Klienten, so nennen wir das, und dann fängst du ganz sachte an. Fang nicht mit großen Sachen an, pick' dir ein paar kleine Dinge heraus. Etwas, von dem der Klient sich sagen kann, oh, hey, das halte ich nicht aus, ich erzähle, was die von mir wissen wollen. Das ist es nicht wert, diese Schmerzen auszuhalten. Dann steigerst du ein bißchen, nur ein bißchen, und er wird immer mehr erzählen. Dann steigerst du
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