Das Fünfte Geheimnis
sie im Dunklen den Weg vorbei an Klippen zu einem flachen Strand fand, würde sie die Nacht über bis in die Berge finden? Müde, durchfroren, hungrig und nackt wie sie war?
Nicht darüber nachdenken, befahl sie sich. Erst einmal an Land kommen. Zurück zu Mutter Erde. In der Ferne konnte sie die schäumende Brandung an den Klippen sehen. Und die Dunkelheit daneben mochte der Strand samt Flußmündung sein. Madrone raffte ihre Kräfte zusammen und schwamm.
Gute zehn Minuten kraulte sie gleichmäßig und zwang sich, im Gleichtakt mit den Schwimmzügen zu atmen, befahl ihren Füßen, regelmäßig auszuholen und rückwärts zu treten. Dann hielt sie für einen Moment inne, um die Haare aus dem Gesicht zu wischen und zu sehen, wie weit sie gekommen war.
Doch die Flußmündung war nirgends zu sehen. Im Gegenteil, Madrone spürte zu ihrem Entsetzen, wie die Strömung sie hinauszog, nach Nordwesten, hinaus auf den offenen Ozean.
Oh nein, dachte sie verzweifelt, Mutter Ozean. Laß mich frei! Und um nicht in Panik zu geraten, änderte sie ihren Plan. Sie schwamm nun in einem anderen Winkel Richtung Ufer, legte mehr Druck in die Schwimmzüge. Es schien, als käme sie nun doch vorwärts, vielleicht sogar in die richtige Richtung, nördlich von der Flußmündung.
Wenn ich mich noch ein bißchen mehr anstrenge, schaffe ich es, dachte sie verzweifelt. Doch gleichzeitig wurden ihre Beine immer schwerer, während ihre Lungen rasten. Ich kann mich immer noch ein bißchen mehr anstrengen, nicht wahr? Weil ich so nicht enden kann. Nein, ich bin nicht bereit zum Sterben.
Wenn der Ozean nur einen Moment Pause machte, ihr eine Chance gäbe, sich auszuruhen und zu sammeln. Sie verstand mit einem Male den verzweifelten Aufschrei mancher Mütter bei der Geburt ihres Kindes: „Stop! Ich schaffe das nicht mehr!“ Aber sie schafften es dann doch, ganz einfach weil sie mußten. Madrone war immer voller Vertrauen gewesen, daß jede Frau es schaffen würde, neues Leben in die Welt zu schicken. Und mit neuem Schwung zwang sie ihren Körper, ihren müden, durchfrorenen Körper, durch die Wellen.
Yemaya, betete sie, ich bin dein Kind. Du kannst mich nicht töten wollen, jetzt. Es macht keinen Sinn, so vieles durchzustehen und dann zu sterben, ausgerechnet hier, in dir.
„Aber ich bin unversöhnlich, gnadenlos. Ich bin nicht dein Körper, ich bin größer als dein Körper. Ich bin ewig.“ Während Madrone diese grausamen Worte im Geiste hörte, machte der Sog die Strecke, die sie so mühsam zurückgelegt hatte, zunichte und riß sie unerbittlich wieder hinaus aufs Meer. Ich bin nur müde, dachte sie. Aber ich bin stark. Ich halte durch. Ich kann weitermachen, solange ich will. Ich werde nicht aufgeben.
Ein Brecher erfaßte sie hinterrücks, schlug über ihr zusammen. Madrone tat einen tiefen Atemzug, doch sie atmete nur Wasser ein. Sie spuckte, hustete, rang nach Luft. Ihre Lungen verlangten nach Luft, doch sie vermochte nicht einzuatmen. Arme und Beine gehorchten ihr nicht mehr. Sie waren viel zu schwer.
Weiter, befahl sie sich verzweifelt, du mußt auch dies noch schaffen. Doch tief innen flüsterte eine andere Stimme: „Ich kann nicht. Ich brauche Hilfe. Ich schaffe es allein nicht zurück.“ Verzweifelt machte sie ein, zwei Schwimmzüge. Kämpfe nicht gegen die Strömung, sagte sie sich, es ist viel einfacher, sich von der Strömung irgendwo an Land spülen zu lassen.
Aber die Strömung zog sie nun wieder zurück aufs Meer. Und nach einigen heftigen Schwimmzügen raste ihr Herz wild, und sie keuchte nur noch nach Luft.
Ich muß eine Pause machen und mich beruhigen, dachte sie und drehte sich auf den Rücken. Ich muß wieder zu Atem kommen, ruhig, ganz ruhig.
Sie ließ sich auf dem Rücken treiben. Um sie herum blaues Wasser, über sich das Blau des Himmels, im Westen die untergehende Sonne. Sie war im Ozean, und der Ozean war in ihr. Salzwasser pulste durch ihre Adern, gurgelte bei jedem keuchenden Atemzug durch ihre Lungen. Ich will leben, dachte sie. Der Augenblick meines Todes ist gekommen. Das Tor, durch das wir alle müssen, und dem ich schon früher so nahe gekommen bin. So viele sah ich hindurchgehen. Aber ich bin noch nicht bereit. Ich will leben.
Ich will leben. Doch was, zum Teufel, kann ich tun? Ich kann mir nicht helfen. Ich kann nur warten, hoffen und atmen. Versuchen, das Herz und die Lungen zu beruhigen. Einatmen trotz Wasser und Schmerzen. Denk nicht an die Sonne, die untergeht und ihren Weg unter Wasser
Weitere Kostenlose Bücher