Das Fünfte Geheimnis
hohl und eingefallen aussah. Ihre Hände waren links und rechts an die Pritsche gefesselt. Madrone fragte sich, wie sie sie nur hier herauskriegen sollte. Doch dann bemerkte sie, daß die Pritsche auf Rollen stand. Gesegnet sei's. Das würde ihr die Sache erleichtern, besonders, wenn Katy an die Pritsche gefesselt war. Es sah so normal aus, jedenfalls hier. Sie stieß die Tür auf und schob das Bett auf den Gang.
Aus den anderen Zellen hörte sie Stöhnen und Seufzen. Aber sie konnte jetzt nicht anhalten. Sie hob den schlaffen Körper des Wächters auf seinen Stuhl zurück und rückte ihn zurecht. Er lebte noch, sicherlich würde er sie identifizieren, wenn er wieder aufwachte und dazu Gelegenheit bekam. Doch dann war sie mit Katy hoffentlich längst auf und davon. Ihr tut mir so leid, sagte sie halblaut zu all den armen Seelen, die sie zurücklassen mußte. Sie machte die Klemmtafel am Kopfteil von Katys Pritsche fest und schob sie hinaus.
Gelobt sei Hekate, gelobt sei Coatlicue, niemand war auf dem Korridor. Aber wenn sie an den langen Rückweg dachte, wurden ihr die Knie weich. Ihr Herz schlug heftig, sie war immer noch schwach. Göttin, ich schaffe es nicht!
Du mußt es schaffen, befahl sie sich. Schön gleichmäßig atmen, gleichmäßig gehen, vorwärts! Hier die Tür, halte den Fuß dazwischen und schieb die Pritsche durch. Weiter!
Katy stöhnte und krümmte sich. Madrone flüsterte ihr beruhigende Worte zu. Aber Katy hörte sie gar nicht. Und nirgends ein Mensch, alle Korridore waren leer. Das kann nicht gut gehen, dachte Madrone, wir werden nicht den ganzen Weg zurücklegen, ohne daß jemand auf uns aufmerksam wird. Wieder krümmte sich Katy. So geht das nicht, dachte Madrone. Wo war doch der Punkt, den ihr Lehrer beim Selbstverteidigungskursus den K.O.-Punkt am Nacken genannt hatte. Hier! Sie drückte zu. Katy seufzte, ihr Körper wurde schlaff, sie lag still.
Johanna, sagte Madrone im Stillen, ich habe dir noch nie gedankt, daß du mir eine so vielfältige Erziehung geboten hast. Jetzt weiß ich es zu schätzen! Sie zog das Laken über Katys Gesicht und schob die Pritsche vorwärts.
Sie waren gerade im letzten Korridor als Katy wieder zu sich kam. Madrone hörte sie stöhnen und zog das Laken fort. Ein stöhnender Leichnam erregte sicherlich Aufmerksamkeit. Vielleicht konnte sie das Fieber etwas mildern. Sie schalt sich einen Dummkopf. Du bist eine Heilerin, warum setzt du deine Fähigkeiten nicht ein? Wie willst du sie sonst die Treppe hinaufbringen, auf diesem Bett etwa? Da war ein Lift, direkt zum Hauptausgang. Nein lieber nicht, sonst saßen sie womöglich in diesem Lift gefangen. Und wer weiß, wer im Lift war: Ärzte, Techniker und anderes Personal, die sie genau beobachten konnten. Sie zog die Pritsche ins Treppenhaus und legte Katy vorsichtig ihre eiskalte Hand auf die Stirn. Große Mutter, laß nicht gerade jetzt hier jemanden herumlaufen und sich wundern. Gleichzeitig konzentrierte sie sich auf Katys Körper und beschwor die Vision von kühlem Wasser. Eisige Bäche in den Bergen, gespeist von den Schmelzwassern der Gletscher. Sie durchdrang Katy mit ihrem Ch'i so sehr, daß sie selbst sich ausgetrocknet und schwindlig fühlte. Schon wieder war sie fast zu weit gegangen. Was war das nur für eine widerliche Krankheit mit der Katy absichtlich infiziert worden war? Katy atmete jetzt ruhiger, sie schlug die Augen auf, blinzelte.
„Still!“ flüsterte Katy, „ich bringe dich hier raus. Wenn du mich verstehst, gib mir ein Zeichen.“
Katy nickte. Dann biß sie sich auf die Lippen, und ein Krampf durchzuckte sie.
„Ich würde dir diese Frage im Moment lieber nicht stellen. Aber glaubst du, daß du gehen kannst, wenn ich dich stütze?“
Katy öffnete die Lippen. Aber sie sagte nicht nein. Madrone öffnete die Fesseln, die ihre Arme und Beine hielten und half ihr hoch. Katy war nackt unter dem Laken. Madrone wickelte ihr das Laken um den Körper. Dann zog sie Katy langsam vorwärts.
„Ich bin so schwach“, flüsterte Katy.
„Alles okay“, flüsterte Madrone zurück, „halt' dich an mir fest.“
Aber es war mehr als nur ein Anlehnen, eigentlich trug Madrone den schwankenden Körper mehr, als daß Katy selbst ging. Sie fühlte, wie ihre Kräfte sie verließen. Diosa, ich schaff's nicht. Ich bin selbst noch so schwach. Habe mich kaum erholt vom fast Ertrinken. Aber ich habe keine Wahl. Weiter, weiter, Schritt für Schritt, die Treppen hinauf, nicht daran denken, wieviele Stufen es noch
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