Das Fünfte Geheimnis
Hätte ich nicht alle diese Reden im Council gehalten, über gewaltfreien Widerstand und so, ich würde jetzt hingehen und den General eigenhändig niederknallen.“
„Du bist nicht die einzige, die das gern täte“, sagte Lou, „wie ich höre, gibt es viel Streit über unsere Strategie. Ich weiß nicht, wie lange die Knallt-ihn-ab-Fraktion sich noch zurückhalten läßt.“
„Aber das wäre ein tragischer Fehler“, sagte Maya alarmiert, „jetzt aufzugeben.“
„Du warst die einzige hier, die Waffen erwähnt hat“, bemerkte Sam.
„Ich habe gesagt, wenn ich nicht ständig für gewaltfreien Widerstand gesprochen hätte“, gab Maya zurück. „Aber ich glaube wirklich daran, daß gewaltfreier Widerstand zum Erfolg führen wird. Ich würde den General gern erschießen, aber das ist rein persönlich. Es würde die ganze Geschichte nicht beenden. Es würde einen neuen General geben. Wir müssen einen anderen Weg finden, sonst verlieren wir.“
„Das Problem ist, daß eine Niederlage nur theoretisch leicht fällt. Ganz praktisch ist es eine harte, gnadenlose Sache.“
„Wer könnte wissen, wo Rosa gefangen gehalten wird“, Madrone wechselte das Thema.
„Einer von Birds Wächtern ist zu uns übergelaufen. Vielleicht weiß er etwas? Aber es gibt ein Problem mit ihm.“
„Was für ein Problem?“
„Nun ja“, Sam erzählt Madrone die Geschichte der Johnson-Familie.
„Du meinst, er hat sie alle erschossen?“
„Alle, bis auf die beiden Jüngsten. Dann bekam er wohl Gewissensbisse. Wir brachten ihn zu Lily, aber er ißt und trinkt nichts, und er spricht auch nicht mit uns.“
„Großartig!“ Isis blickte auf. „Diese Wächter sind ihre Elite. Sie wurden eigens gezüchtet. Wie Rennpferde für Siege gezüchtet werden. Das sind keine City-Ratten oder Wasserdiebe oder das letzte Aufgebot aus Arbeitslosen. Das sind Soldaten durch und durch. Wenn einer von denen übergelaufen ist, hat das Folgen. Vielleicht kommt der Rest auch bald.“
„Bis jetzt nicht“, sagte Nita.
„Gib ihnen Zeit.“
„Kann nicht jemand von uns Bird oder Rosa im Traum erreichen?“ fragte Madrone.
„Das ist schon versucht worden“, sagte Sam, „aber umsonst, er hat sich verschlossen.“
„Lily hat es mehrfach versucht, ihn aber nicht erreicht“, sagte Maya traurig, „sogar ich erreiche ihn nicht.“
„Ich habe es noch nicht versucht“, sagte Madrone, „aber das werde ich jetzt.“
✳✳✳
In ihren Träumen fiel sie, fiel immer tiefer. Nichts um sie her, nur Leere, ein grauer Raum, gefüllt mit Schrecken. Dann war plötzlich Bird da, er fiel gemeinsam mit ihr.
Sie streckte die Hände nach ihm aus, wollte ihn berühren, wollte jemanden, an den sie sich halten konnte. Doch sie erreichte ihn nicht, und so fielen sie tiefer und tiefer.
„Nirgends ist fester Boden“, sagte Bird, „nirgends ist festes Land.“
„Aber was ist mit deinen Flügeln, Bird? Fliege! Flieg' fort von hier!“
Aber Bird flog nicht, er fiel und fiel weiter ins Bodenlose.
Kapitel 34
In eine Ecke gedrückt, beobachtete Madrone das Geschehen. Dicht an dicht drängten sich die City-Bewohner in dem düsteren Keller, der als provisorischer Versammlungraum für die Ratsversammlung diente. Die geschnitzte Lachs-Maske des Sprechers für den Westen streifte von Zeit zu Zeit ihren Kopf, und sie konnte nur hoffen, der Sprecher würde nicht dem Drang erliegen, auf eine besonders überzeugende Rede mit zustimmendem Kopfnicken zu reagieren. Der Raum roch nach Schweiß und Salbei. Isis und Sara kauerten ganz in ihrer Nähe.
„Wie lange wollen wir diese sinnlose Strategie noch weiterverfolgen?“ rief Cress vom Wasser Council. „Jeden Tag sterben einige der Unseren, die Ernte-Situation auf den Feldern ist katastrophal. Warum geben wir nicht zu, daß wir stärkere Aktionen brauchen?“
„Wir wollen so weitermachen, bis ihnen bewußt wird, daß mit Gewalt nicht alles erreicht werden kann“, entgegnete Lily entschieden.
„Was kann denn nicht mit Gewalt erreicht werden?“ rief jemand aus dem hinteren Teil des Raumes, und einige lachten.
„Bleibt bitte im Prozeß!“ rief Joseph, der die Sitzung leitete.
„Gewalt hält sich immer für unbesiegbar“, fuhr Lily fort, „aber das ist eine gefährliche Denkweise, denn Gewalt verbraucht ungeheure Mengen an Energie und Menschenleben. Gewalt verzehrt alles, auch den Gewalttätigen.“
„Ich weiß nicht, Lily“, wandte ein alter Mann ein, „ich möchte mit allem Respekt antworten, daß
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