Das Fünfte Geheimnis
daß sie mit ihrer Einheit verwachsen sind. Die Einheit ist ihr Leben, das ist es, woran sie glauben. Wenn sich auch nur einer von einer Einheit gewinnen läßt, so gibt es eine Chance, daß die anderen ihm vielleicht folgen. Aber wie ihr diesen einen bekommen könnt, weiß ich nicht. Vielleicht funktioniert es mit dem einen, der schon bei euch ist. Vielleicht könnt ihr ihn überzeugen.“
„Vielleicht lernen auch Schweine noch fliegen?“ rief Cress dazwischen. Einige lachten, doch der Sprecher gebot Stille.
„Freund Coyote hat eine Botschaft für uns.“ Der Sprecher beugte sich nahe zum Rachen der Coyotemaske hinunter. „Coyote sagt: Erinnert euch an eure vergessenen Stärken. Haltet zum Schlauen, nicht zum Krieger. Verzweifelt nicht.“
„Die Fragen werden wir heute nacht wohl nicht mehr beantworten können“, sagte Joseph. „Wir müssen nun Schluß machen, damit die Patrouillen der Stewards uns nicht auf dem Heimweg festnehmen. Wir debattieren morgen weiter. Geht in Frieden. Que les vaya bien.“
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Lily ging zu Madrone hinüber, während sich die Versammlung auflöste. „Komm mit zu mir nach Hause“, sagte sie, „ich brauche dich als Heilerin.“
Madrone seufzte tief auf. „Lily, ich habe dich sieben oder acht Monate nicht gesehen. Ich komme direkt aus der Hölle, und du kannst mir nicht mal Hallo sagen, bevor du mir Arbeit zuweisen willst?“
Lily zog die Brauen hoch. „Wie kannst du sagen, wir haben uns nicht gesehen? Ich habe dich dutzende Male im Traum getroffen.“ Doch dann strich sie sich das Haar mit einer müden Bewegung aus der Stirn. „Vergib mir, mein Kind. Ich werde wohl langsam verrückt. Du hast recht, ich hätte dich erst einmal begrüßen sollen. Ich grüße dich also. Schön, daß du zurück bist.“
Sie nahm Madrone bei der Schulter und küßte sie leicht auf die Wangen: „Und jetzt habe ich eine Aufgabe für dich.“
„Lily, Sam hat ein Haus voller Arbeit für mich. Ist es wirklich wichtig?“
„Es ist die wichtigste Arbeit, die du überhaupt tun kannst.“
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„Und wie, zum Teufel, soll ich das heilen?“ fragte Madrone wütend. Sie standen im Wohnzimmer der kleinen Wohnung, in die Lily für die Dauer der Krise umgezogen war. In einer Ecke des Raums hockte Nullneun, den Kopf auf die Hände gestützt und brabbelte vor sich hin. Sein Augen waren leer. Lily zog Madrone behutsam aus dem Raum. Sie setzten sich in der winzigen Küche nieder.
Doch Madrone war zu unruhig, sie stand auf und ging hin und her: „Zeige mir einen Virus, eine nette Wunde, ein gebrochenes Bein, okay! Aber wie, zum Teufel, soll ich die Seele eines Mannes heilen, der kaltblütig eine ganze Familie niedergeschossen hat?“
„Hat er nicht, er hat vorher aufgehört.“
„Sicher, sicher, das rechne ich ihm hoch an. Eine Fünfjährige, das war dann doch etwas zuviel für ihn. Eine Achtjährige konnte er niederknallen, aber...“
„Ist da wirklich kein Teil von dir, der verstehen kann?“
„Nein!“
„Absolut nicht?“
„Lily, du bittest mich, den Mörder meiner Mutter zu heilen.“
„Wie meinst du das?“
„Meine Mutter wurde von einer Todes-Schwadron in Guadeloupe getötet. Von Männern wie er. Ich war dabei. Ich erinnere mich jetzt.“
„Aber dann hast du doch eine Beziehung zu ihm.“
„Ich habe keine Beziehung zu ihm. Ich will auch nicht heilig gesprochen werden. Ich bin auch nicht auf Vergeben und Vergessen aus. Ich bin nicht einmal eine richtige Seelen-Heilerin. Warum suchst du dir nicht so einen, es sind doch sicher noch einige in der City zurückgeblieben? Und dann laß mich zurück zu meinen Bazillen und meinen kaputten Knochen.“
„Unsere Seelen-Heiler haben alle bei ihm versagt. Du bist unsere letzte Hoffnung. Du bist in dieser Welt gewesen, aus der er kommt.“
„Das ist es ja, warum ich sage, es ist hoffnungslos. Ich kenne diese Kerle. Die sind nicht wie wir, Lily. Denen fehlt etwas. Das ist eine ganz andere Sorte Mensch, und ich meine das wörtlich.“
„Wirklich? Willst du mir sagen, daß du nicht töten könntest?“
Madrone setzte sich in den Sessel Lily gegenüber und lehnte sich weit zurück. „Ich weiß nicht. Ich hatte da unten im Süden Gelegenheiten zu töten. Aber ich konnte es nicht. Bis auf eine Ausnahme. Ich habe jemanden verletzt – aber das war, um Katy zu retten. Ich habe ihn nicht getötet, aber das war mehr ein glücklicher Zufall. In dem Augenblick war es mir egal. Doch das ist alles ganz anders, als die Dinge, die
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