Das Fünfte Geheimnis
unser Widerstand uns auch aufzehrt.“ „Gewalt wirkt zu neunzig Prozent durch Einschüchterung“, fuhr
Lily unbeeindruckt fort. „Dem Gewalttätigen wird vor allem gehorcht, weil jeder vor dem Angst hat, was er ihm antun könnte. Aber niemand kann auf Dauer herrschen, wenn er Gehorsam mit Gewalt erzwingen muß. Wenn wir uns weigern zu gehorchen, wenn wir nicht mit ihnen zusammenarbeiten, müssen sie sich geschlagen geben.“
„Aber wie können wir uns wirklich weigern, Lily?“, sagte Lou. „Sogar Bird mußte seinen Widerstand aufgeben, und nun arbeitet er für sie.“
„Er hat ihnen von den Zisternen erzählt“, sagte die Frau mit den gelben Haaren, die dicht neben Cress saß. „Sie haben in den vergangenen drei Tagen ständig Zisternen zerstört, fünf unserer Leute wurden getötet, als sie sich ihnen entgegen stellten.“
„Sie haben die Zisternen selbst entdeckt, das war an dem Tag als sie nach dem Chen Place suchten“, Walker sprang empört auf. „Wir können nicht alles, was schiefgeht, Bird anlasten!“
„Okay, aber er ist nicht mehr auf der Plaza zu sehen, seitdem die Zisternen zerstört wurden“, grollte Cress, „hat das nichts zu bedeuten?“
„Was soll es denn bedeuten?“ gab Walker zurück.
„Es geht hier nicht um Bird“, legte sich Lily ins Zeug, „warum reden wir immer wieder über Bird? Held oder Betrüger, er ist nur ein Mensch.“
„Er ist eben eine Schlüsselfigur“, entgegnete Lou gelassen, „grundsätzlich bin ich deiner Meinung, Lily. Aber wir können Bird nicht beiseite lassen. Er ist ein lebendes Beispiel für das, was passiert, wenn Gewalt auf Widerstand trifft. Er symbolisiert den Kampf, in den wir alle verstrickt sind. Wir haben einen Helden gebraucht, zu dem wir aufsehen können. Das war vielleicht naiv, unrealistisch, aber verständlich. Es war aber auch unfair, das ist sicher. Sein Verrat an uns hat uns entmutigt. Denn, verdammt noch mal, ich weiß, daß er viel tapferer und zäher ist als ich. Wenn er ihnen nicht widerstehen konnte, wie soll ich es dann können?“
„Nenn' es nicht Verrat“, protestierte Nita.
„Jeder würde es so nennen“, gab Cress zurück.
„Dann seid ihr alle Narren“, antwortete Lily.
„Bleibt bitte im Prozeß, zur Sache bitte“, schrie Joseph. „Okay, Lou, du bist dran.“
„Vielleicht sind wir alle Narren, Lily“, sagte Lou, „aber dann müssen wir uns auch entsprechend verhalten. Wir sind Menschen mit beschränkten Kräften, keine City voller Heilige. Wir können nur bis zu einem bestimmten Punkt durchhalten, und dieser Punkt ist meiner Meinung nach erreicht. Es kommt darauf an, wer zuerst zusammenbricht, und das könnten durchaus wir sein.“
„Und was schlägst du vor?“ fragte Lily sanft.
„Unsere Leute müssen in gewisser Weise ihrem Unmut Luft machen können. Das hat mit Gewalt nichts zu tun, sie sollen nur ihrem Ärger Luft machen können.“
Stille im ganzen Raum. Isis stupste Madrone vorsichtig an. „Darf ich hier auch etwas sagen?“
Madrone nickte. „Heb' einfach die Hand, damit der Versammlungsleiter dir das Wort gibt. Und sprich nicht zu schnell, damit alle dir folgen können.“
Joseph sah Isis an und nickte, sie stand auf.
„Leute, ihr habt hier eine wunderschöne Stadt. Ich bin hier herumgewandert und habe nach den Armenvierteln gesucht. Und ich habe nirgends verfallene Häuser oder vernachlässigte Gärten gesehen. Es ist schon so, wie es mir Madrone hier erzählt hat, ihr habt euch eine Welt aufgebaut, in der jeder genug zum Leben hat. Das ist wichtig. Dort, wo ich herkomme, ist das nicht selbstverständlich, und es ist auch für die Steward-Soldaten nicht selbstverständlich. Deshalb überrascht es mich auch nicht, daß sie anfangen zu desertieren. Die meisten von ihnen sind arme Kerle, die normalerweise auf der Straße liegen würden, sie haben nur die Wahl zwischen der Armee und dem Gefängnis. Diese Leute sind nicht euer Problem.“
Isis machte eine Pause. „Das Problem ist das Elitekorps. Jene Leute, die eigens für die Armee herangezüchtet und erzogen wurden. Jene Kerle, die gar nichts anderes kennen als die Armee. Sie werden am schwersten zu überzeugen sein, wenn überhaupt. Und wenn ihr sie nicht überzeugen könnt, werdet ihr sie töten müssen. Ich weiß, das ist nicht in eurem Sinn, aber ihr müßt den Dingen ins Auge sehen. Und sie werden nicht leicht zu töten sein.“
„Hast du irgendeine Vorstellung, wie wir sie kriegen können?“ fragte Sachiko.
„Ich weiß nur,
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