Das Fünfte Geheimnis
tun.“
„Was denn?“
„Komm mit mir, wenn ich Bird besuche. Ich habe Angst, allein zu gehen.“
✳✳✳
„Bird ist verschwunden“, sagte Nita, „seit zwei Tagen hat ihn niemand mehr auf der Plaza gesehen.“
Verschwunden? Madrone starrte Nita ungläubig an. Sich vorzustellen, daß sie ihn hätte sehen können, ihn hätte berühren können, vielleicht hätte herausfinden können, wie es ihm wirklich ging. Und nun war er fort.
Sie drängten sich um den Tisch in der Küche, tranken Kräutertee. Es war spät abends, die Patienten waren für die Nacht versorgt. Sam räkelte sich müde auf der Couch, die Füße hochgelegt. Mary Ellen saß in einer Ecke, der Kopf war ihr auf die Brust gesunken, sie schnarchte leise. Sara wusch die Teller ab und wischte ein letztes Mal über die Küchentische. Maya rollte einen Pieboden aus.
„Sara, setz dich hin“, sagte Madrone. Die friedliche Atmosphäre in der Küche irritierte sie plötzlich. Was mußte Bird gerade für Qualen erleiden, während sie hier gemütlich ihren Tee tranken? „Du wirst ja zu einem richtigen Putzteufel. Wir räumen hier schon auf, wenn wir fertig sind.“
„Unsinn“, sagte Sara, „ich versuche, meinen früheren Müßiggang wett zu machen.“ Sie lächelte. Auch sie sah müde aus. Trotzdem verbreitete sie im Zimmer allein durch ihre Anwesenheit eine Atmosphäre von Luxus und Wohlbehagen. Nita lächelte ihr zu, und ihr Blick ruhte einige Augenblicke zu lang wohlgefällig auf Sara, wie Madrone sehr wohl bemerkte. Oh, dachte sie, entweder muß ich Sara bald zurück in die Southlands bringen, oder Isis wird gegen alle meine alten Freunde um Sara kämpfen müssen.
Isis, die einen Moment zuvor eingetreten war, hatte den Blick auch aufgefangen und ebenso verstanden. Sie trat neben Sara, legte ihre Hand besitzergreifend auf ihren Rücken und streichelte sie betont langsam. Dann beugte sie sich vor und küßte Sara zärtlich auf den Mund: „Was machtst du, Liebling?“
„Ich wasche ab“, Sara rückte etwas ab.
„Komm, setz dich zu mir“, sagte Isis.
„Gleich, noch einen Augenblick“, gab Sara etwas unwillig zurück.
„Erzählt mir, wie Bird gefangengenommen wurde“, sagte Madrone.
„Es gab Streit um das Wasser“, Sam richtete sich auf der Couch auf, „die Steward-Armee hat vor einigen Wochen die Bäche und Kanäle mit Dämmen abgeriegelt. Die City-Bewohner versuchten, sie daran zu hindern. Die Stewards erschossen zwei vom Council, doch dann schob sich eine ganze Gruppe von Kindern zwischen die Stewards und Schwester Marie. Ein Steward-Soldat erschoß einen seiner eigenen Kameraden, als der Rosa töten wollte. Aber dann wurden Rosa, Bird und Marie gefangen genommen.“
„Arme Marie“, meinte Madrone, „sie war doch so krank. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie noch am Leben ist. Und was ist mit Rosa? Hat sie irgendjemand später noch lebend gesehen?“
„Nein“, sagte Aviva.
„Wissen wir, wo sie gefangen gehalten werden?“
„Nein. Ich befürchte, daß sie im sogenannten Erholungs-Center gefangen gehalten werden“, sagte Sam.
„Verdammt!“
„Ich bin sicher, sie erpressen Bird mit ihr“, meinte Maya nachdenklich, „ja ganz bestimmt.“
„Zweifellos“, stimmte auch Isis zu. Sara ließ sich neben ihr auf einem Sessel nieder. „Sie sind ausgesucht grausam, die Steward-Bosse.“
„Ja“, stimmte Sara zu, „oh.“ Sie seufzte überrascht, als Isis zärtlich ihren Schenkel streichelte.
„Ihre bevorzugte Taktik ist, jemanden zum Überläufer zu machen. Der verrät ihnen dann schließlich alles Wichtige“, erzählte Isis weiter. „Damit haben sie immer Erfolg.“
„Aber nicht mit Bird“, warf Madrone ein.
„Sie müssen nur den richtigen Hebel finden“, meinte Sara, „die meisten Menschen halten körperliche Schmerzen nicht lange aus. Und wenn doch, so finden sie andere Methoden.“
„Zum Beispiel Rosa“, sagte Maya, „die Göttin möge sie beschützen.“
„Ich habe es satt“, sagte Madrone erbittert, „versteht ihr? Ich habe dieses verdammte Durcheinander satt. Haben wir nicht überall, hier, wie in den Southlands, schon genug Probleme, auch ohne Krieg? Unsere Umwelt, unsere Mitmenschen, genug Essen herbeizuschaffen, das ist doch wichtiger als auch noch gegen Folter und Kriegsgreuel anzukämpfen.“
„Warte nur, bis du so alt bist wie ich“, knurrte Sam, „dann hast du wirklich genug davon.“
Maya prustete und kleidete die Backform mit dem Pieboden aus. „Ich bin einfach nur wütend.
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