Das Fünfte Geheimnis
verlassen und uns gebeten, ihm den Weg zu Gott zu weisen“, sprach der General weiter. „Kadett Fünfvier Drei-drei-vier, früher Bird genannt, wir ehren dich heute, indem wir dich als Henker auswählen.“
Bird brauchte lange, bis er begriff. Hier, unweit von ihm, stand Maya. Sie sah ihn an, mit ihren ruhigen, alten Augen. Sie ist alt geworden in letzter Zeit, schoß es Bird durch den Kopf, sie hat ihre zeitlose Straffheit verloren, und nun sieht sie ganz einfach nur alt aus. Zerbrechlich, dem Tode geweiht.
Sie wollen, daß ich sie erschieße.
Hier also war das Ende seines Weges. Er war ihn Schritt für Schritt gegangen, und nun war das Undenkbare eingetreten. Wenn er sich weigerte, was würden sie tun? Würden sie Maya selbst töten, ganz langsam, während er zusehen mußte, wie sie gequält wurde? Oder würden sie ihn wieder quälen, bis er zusammenbrach und darum bettelte, Maya töten zu dürfen? Oh Göttin, und er war schuld, er hatte ihnen von ihr erzählt, er hatte ihren Namen genannt. Seine eigene Schwäche hatte sie bereits ermordet.
Wenn er nur mit ihr sprechen könnte, sie um Verständnis bitten könnte, ihre Vergebung erlangen könnte. Er blickte starr zu ihr hinüber. Maya schien ruhig. Er schwitzte, konnte nur stoßweise, keuchend atmen. Wenn er die Augen schloß, fühlte er sich fallen, gewichtslos, unfähig, festen Boden zu finden. Seine Hände zitterten. Aber er hatte das Gewehr in seinen Händen. Konnte er nicht blitzschnell den General erschießen? Doch nein, bevor er feuern konnte, würden die Stewards schon schießen. Wieviele von den City-Bewohnern würden zur Vergeltung dran glauben müssen? Und wenn sie ihn töteten, wer würde zwischen Rosa und Maya und ihrem Schicksal stehen?
Ich bin schon früher verbrannt worden, schienen Mayas Augen zu sagen, dieser Tod ist mir nicht neu. Wovor hast du Angst, Bird?
Nicht vorm Tod, abuelita, Tod ist ein Akt der Gnade, ich weiß es. Wenn ich mit meinem Tod deine Verzeihung erlangen könnte, ich würde gern sterben. Mit diesen Gewehren hinter mir, kann ich aber gar nichts unternehmen, um dich zu retten. Zu viele Unschuldige müßten dann ebenfalls sterben.
Aber der Tod ist auch ein Geschenk, das ich dir geben kann. Ich kann dir deine verlorenen Lieben zurückgeben. Ich kann dir auf immer Sicherheit geben.
Denk nach, Bird! Er hörte Rios Stimme. Denk sorgfältig nach, was du tun kannst. Aber Bird wußte, er konnte nicht nachdenken. Sein Kopf dröhnte, seine Augen brannten, seine Glieder waren bleischwer.
Maya stand ihm gegenüber und sah gefaßt ihren eigenen Tod in Birds Gesicht. Sie hatte Angst, nicht um ihr eigenes Leben, sie war wirklich alt genug, aber sie hatte Angst um Bird, weil sie wußte, was diese Tat für ihn bedeuten würde. Er würde nie wieder frei sein davon. Und sie konnte ihm nicht helfen. Aber was sollte sie auch sagen? Bird, deine Schwäche ist, daß du sterblich bist, daß man dir Schmerz zufügen kann, daß du Angst bekommst und dann Fehler machst. Ich bin mitschuldig, denn ich habe dich im Stich gelassen. Als gute Feministin habe ich immer gesagt, auch Männer sollen weinen, schreien und jammern dürfen, sollen keine Angst haben, ihre Verwundbarkeit zu zeigen. Aber was ich mir insgeheim von dir gewünscht habe, war die Standhaftigkeit des echten Kämpfers. Ich wollte, daß du unbesiegbar bist, stärker als das Leben selbst. Weniger wollte ich nicht von dir akzeptieren, und das war mein Fehler.
Madrone stand still, wagte kaum zu atmen. Sie versuchte verzweifelt, einen Blick von Bird aufzufangen. Einen Blick nur, um ihm ein Zeichen zu geben, wenn sie ihm schon nichts zurufen konnte. Aber er sah niemanden an, er hatte nur Augen für Maya, die sich hier anschickte zu sterben. Oder würde Bird sterben? Madrone wollte schreien, wollte ihren Körper zwischen die beiden werfen, wollte selbst sterben. Wenn du das tust, wenn du schießt, Bird, zerstörst du uns alle. Wir alle wären nie wieder fähig, Kraft zum Widerstand gegen unsere Feinde zu finden.
Im Menschengewühl erspähte sie Cress. Er war von seinen Freunden umringt. Diosa, was würden sie tun? Wenn Bird schoß, würde Cress seine übelsten Vorwürfe bestätigt sehen. Das zerbricht unsere Einheit, dachte sie unklar. Sie würden keine Ratsversammlung mehr haben, ein Bürgerkrieg würde losbrechen, Schüsse aus dem Hinterhalt, marodierende Horden in den Straßen. Niemand würde mehr auch nur einen Versuch machen, sich an ihren Tisch zu setzen, wo doch immer noch ein Platz
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