Das Fünfte Geheimnis
Schnitterin. Madrone fühlte plötzlich ihr Alter schwer auf sich lasten. Das Blut schoß ihr heiß durch die Adern, die Hitze verbrannte ihre Jugend.
Diosa, wie schnell sich die Dinge veränderten! Warum fiel ihr nicht der Name einer einzigen Göttin ein, die sie um Hilfe anflehen konnte, warum keiner der mächtigen Namen? Und wie die Kräfte nutzen, die sie ihr vielleicht schickten? Hatte sie alle diese Dinge vergessen, die sie doch seit frühester Kindheit kannte? Flehend bat sie darum, wieder Kind zu sein, wieder auf den Schoß ihrer Mutter klettern zu können und sich geborgen zu fühlen. Aber ihre Mutter Rachel war schon vor langer Zeit im fernen Guadeloupe gestorben. Rio war gekommen und hatte sie nach Kalifornien mitgenommen. Aber auch er war tot, und nun hatte sie nur noch Maya. Yemaya, diese Göttin der Kraft, diese Göttin von fern über dem Ozean. Ja, das war nun ihre Mutter, nur sie konnte sie vielleicht noch schützen und ihr neue Kräfte spenden oder sie ertrinken lassen.
Ich ertrinke, Mama, Yemaya. Hilf mir, schick' mir Hilfe, schick' mir jemanden, der mich rettet. Dann war da ein Rauschen in ihren Ohren, es klang wie die anrollende Brandung des Meeres. Sie sah ein Gesicht mit dem Glanz des Mondlichts in den Augen, eine uralte Mondin, ein Altweiber-Mond, milchiges Licht blitzte auf der Sensenklinge der Großen Schnitterin des Todes. Die Meereswellen zerrten an ihren Füßen, Dunkelheit ringsumher, eine lebendige Dunkelheit, und aus ihr heraus trat ein leuchtendes Etwas mit zwei Köpfen, blutrote Rachen öffneten sich, furchterregende Reißzähne richteten sich drohend auf sie, Schlangenhäupter mit schmalen Augen blitzten ihr entgegen. Gelblich glühend irisierten die Schlangenaugen im Mondlicht. Madrone streckte beschwörend die Hände aus.
»Coatlicue, Große Schlangengöttin«, flüsterte sie bebend, »Tiamat, Mutter aller Götter. Hilf mir, verstecke mich in dir, schütze mich!« Die Schlangenhäupter wichen zurück, wie die Meereswellen an der Küste zurückströmen, zischelnd, rauschend. Die Schlangenköpfe bogen sich, wandten sich einander zu und verschmolzen dann zu einem einzigen Kopf, der blitzschnell auf Madrone zuschoß. Sie roch den Hauch von Blut und schmeckte den salzigen Geschmack des Ozeans. Sie sah die gespaltene Zunge auf sich losschießen, spürte wie sie an den Hüften umschlungen wurde. Dann versank sie in ein Meer von Dunkelheit und alles um sie herum brannte, mühsam öffnete sie die Augen und sah direkt in die Augen der Schlange. Sie wand sich, sie kroch, sie glitt über ein Netzwerk schimmernder Pfade, überwältigt vom scharfen Geruch von Verwesung und Tod, der sich in ihrer Nase festsetzte. Sie fühlte sich verfolgt, aber sie hatte keine Beine, um zu fliehen, nur die Muskeln in ihrem Leib zuckten und bewegten sich wie in Wellen.
Längst hatte sie jedes Gefühl für Zeit verloren. Sie durchwanderte Welten voller Energien, lichte, kraftvolle Wälder der Schönheit und Gesundheit, die neben einem Meer von krankem Schleim und Blut wuchsen über dem der Mond sanft schimmerte. Sie konnte ihre Verfolgerin bereits riechen, hören, schmecken. Sie kam näher und näher.
Plötzlich schoß sie aus den Bäumen zu ihrer Rechten. Madrone fühlte sich hart am Hals gepackt und gewürgt. Sie rang nach Luft, kämpfte, wollte sich befreien, von dem, was stärker war als sie. Sie versuchte zu schreien, es ging nicht, sie versuchte zu beißen, aber sie bekam den Mund nicht auf. Sie keuchte und strampelte, rang nach Luft. Die Schlange zischte an ihrem Ohr, bog ihr Haupt zurück und schoß blitzschnell auf sie los. Sie schrie und riß sich los, Luft, endlich einen richtigen Atemzug tun! Scharf gruben sich die Zähne in ihre Haut, noch einen Moment und die Schlagader wäre durchbissen und sie würde sterben. Sie nahm all ihre Kräfte zusammen, aber umsonst. Dann ein scharfes Reißen, der mörderische Würgegriff lockerte sich, etwas fiel zur Seite. Sie sah ein Rieseninsekt, aber konstruiert, aus grauen Metallformen zusammengenietet. Auf seinem Rücken festgeklammert in einen merkwürdig altmodischen Fahrradlook war ein riesiges Röhrensystem. Das alles erinnerte sie an den gewöhnlichen Erkältungsvirus, wie er in der Ebene auftrat. Während sie das Ding beobachtete, erhob sich das metallene Monster in die Luft und ließ sich auf sie niederfallen. Und sie kämpfte mit ihm, aber je mehr sie schlug und sich drehte, umso schwerer verletzte sie sich. Das Ding ergriff sie von hinten und schwenkte
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