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Das Fünfte Geheimnis

Titel: Das Fünfte Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Starhawk
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Licht geben. Vielleicht sogar in ein größeres Licht. Sie sehnte sich nach diesem Licht, sehnte sich danach, sich hineinfallen zu lassen, in die Tiefe jenseits der Tiefe, in die Stille, die nichts als Frieden bedeutete.
    Von ihrem eigenen Nabel führte eine dunkelrote, dunkelblauschwarze Nabelschnur, die sie hielt. Nur dieses Obsidian-Messer, das wußte sie im selben Moment, konnte sie befreien. In einem Augenblick. Wenn sie sich erinnerte, aber an was? Sie war in der Mitte von irgendetwas. Sie mußte denken, aber was? Ganz von fern hörte sie etwas wispern. Ihren Namen: Madrone.
    Oh, sie würde jetzt so gern bei Sandy sein. Und bei den anderen: Rachel, Johanna, Rio. Und bei Bird. Sie hatte nicht sterben wollen in den Händen des Monsters. Aber sie fühlte, es war La Serpiente, die Todesgöttin, die ihr einen Platz neben sich anbot. Der Tod würde ihr endlich Ruhe bringen. Aber da war das Monster – das Ding, über das sie nachdenken mußte. Ach nein, es war das kleine Mädchen neben ihr. Und in den Betten daneben noch mehr Kinder. Und in den anschließenden Räumen weitere kranke Menschen, Männer und Frauen. Was sollte sie tun? Ihre eigene Existenz erschien ihr plötzlich so unwichtig.
    Die Nabelschnur in ihrer Hand bewegte sich, sie hatte sich plötzlich in eine Schlange verwandelt. Eine Schlange mit dem steinernen, kalten Gesicht von Coatlicue, der Göttin, die Menschenopfer verlangte. Ihre Augen blickten nicht böse, nur unnachgiebig. Diese scharfen Augen sahen alles, diese Augen boten aber auch Schutz und Frieden – bis in alle Ewigkeit. Diese Augen waren ihre Bestimmung.
    Ihre Hand hielt das Obsidian-Messer. Ihre andere Hand hielt die Nabelschnur. Es gab immer eine Wahl. Es gab immer eine Entscheidung am Kreuzweg.
    »Leih' mir das Messer«, sagte sie, »und ich will dein Instrument sein.«

    ✳✳✳

    Ihre Augen waren weit geöffnet, als jemand sich über sie beugte und ihren Arm drückte. Sie blinzelte und atmete tief.
    »Madrone«, hörte sie jemanden sagen, »Madrone, hörst du mich? Erkennst du mich, ich bin Aviva.«
    Madrone nickte langsam. Ihr war übel. »Ich bin okay.«
    Das Kind in Madrones Armen schlief friedlich. Sie ließ es vorsichtig wieder aufs Bett gleiten. »Hilf mir«, fauchte sie die verblüffte Aviva an. An ihrem Arm taumelte sie ins Badezimmer und übergab sich. Sie sank erschöpft zu Boden, von Schüttelfrost gepeinigt. Sie rief Erde und Feuer auf, ihre unsichtbaren Wunden zu heilen. Die Wunden ihres Geistes, ihrer Seele.
    Jetzt war sie nur noch müde. Aber in ihrem Herzen brannte ein Feuer, neue Kräfte durchströmten sie. Aviva stützte sie, und so kam sie wieder auf die Füße, obwohl ihre Knie noch nachgaben. Sie sprengte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Tief einatmen, tief ausatmen, befahl sie sich. Sie lebte, und das war schon ein Sieg. Sie hatte diese Sache durchgestanden, das war ein weiterer Sieg. Und sie konnte sogar ohne Hilfe wieder aus dem Badezimmer gehen.
    »Was ist denn passiert?« fragte Aviva ängstlich, während sie einem der kranken Kinder die fieberheiße Stirn mit einem feuchten Tuch abwischte, »warst du ohnmächtig?«
    »Es ist alles okay«, sagte Madrone statt aller Erklärungen, aber in Gedanken durchlebte sie den ganzen Höllenritt noch einmal. Ihre Hände brannten. Sie sah, wie Aviva sich um das kranke Kind bemühte. Sie trat auf die beiden zu und legte ihre feurige Hand auf den Hals des Kindes. Es zuckte zusammen, ein dunkles Etwas floh. Das Kind atmete tief und erleichtert auf. Ja, dies war der Weg, dachte Madrone. Und es war nun so einfach. Nur, daß sie so müde war. Aber sie konnte doch jetzt nicht schlafen, während die Kranken vielleicht starben. Solange noch Atem in ihr war, solange sie noch stehen konnte, mußte sie nun von einem Bett zum anderen gehen, ihren Mund auf den Mund der Kranken legen, ihnen die Krankheit aussaugen, ihre Hände auf die Stirn der Leidenden legen, und ihnen helfen. Sie würde die Schlangen der Krankheit aus ihnen heraustreiben, immer wieder.
    Sie ging zum nächsten Bett. Und dann zum nächsten .
    Ach könnte sie doch alles vergessen, Schlaf, Ruhe, Essen und Zeit, so daß dieser Moment der Heilung ihr Aufenthalt werden könnte.
    Fünf Stunden später brach Madrone zusammen.

Kapitel  6
    Eine schwarze Krähe wurde Birds Wegweiser. Sie flog immer wieder vor ihnen auf und zeigte ihnen so einen Weg quer durch eine Schlucht. Oder Bird hörte, wie sie an einem bestimmten Pfad, an einer Kreuzung Locktöne von sich gab. Er und

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