Das Fünfte Geheimnis
sie herum. Sie sah den Erdboden sich drehen und die Bäume. Nur noch einen kurzen Moment und es würde ihr den Verstand rauben. Sie war im Begriff zu sterben, wie Sandy und die anderen gestorben waren. Dieses Etwas war größer als sie und würde sie auf einem Baum töten. Einem Madrone-Baum.
Madrone. Doch als sie so ihren Namen aussprach, fühlte sie neue Kraft. Sie schlüpfte aus ihrer Haut und segelte durch die Lüfte. Die Schlange war eine Verwandte der Vögel, seit undenklichen Vorzeiten. Und ähnlich dieser Verwandtschaft würde sie sich nun verwandeln, mit dem Ch'i ihres Körpers würde sie lange Beine und Flügel ausbilden. Als Vogel schwang sie sich hoch durch die Lüfte auf die Wipfel der Bäume und ließ das Ding zurück mit einer Klaue voller Schlangenhaut.
Sie fühlte ihre Vogelschwingen kraftvoll die Lüfte zerteilen. Sie hatte keine Zeit, herauszufinden, was für ein Vogel sie sei. Ihre Schwingen irisierten grau und blau und der Schweif war ziemlich lang. Der Vogel taumelte, als sich Madrones Körper in einer anderen Wirklichkeit wieder von Fieberwellen ergriffen fühlte. Dann griff das Ding erneut an, indem es den Baum entwurzelte, in dem Madrone, der Vogel, Zuflucht genommen hatte. Sie floh, verzweifelt mit den Flügeln schlagend, höher und höher in das Blau des Himmels empor. Als Vogel konnte sie nur flüchten, aber sie konnte ihren Angreifer nicht attackieren.
Sie fühlte ihre Kräfte erlahmen, mehr und mehr. Sie war zu schwach, sie mußte einen Augenblick ausruhen können. Die Kraft einer Schlange, dachte sie intuitiv, liegt auch darin, sich zu wandeln, die Haut abzustreifen, sich zu erneuern, immer wieder und wieder. Mit einem mächtigen Schlag ihrer Flügel machte sich Madrone frei, schlüpfte aus ihrem Flügelkleid, es wirbelte zerstiebend in die Tiefe, während ihr Körper leicht und frei in die Höhe schnellte, leicht, frei und klein schoß sie zwischen ein Distelgestrüpp und war verschwunden. Sie hörte, wie geisterhaft und böse grollend, zischelnd nach ihr gesucht wurde.
Vorsichtig schob sie ihren Kopf aus dem Distelgestrüpp und sah das unbekannte Monster vor sich liegen oder vielmehr seine leere Hülle. Schnell kroch sie hinein, machte sich ganz klein und dann wieder groß, um ihren Körper dieser neuen Hülle anzupassen. Irgendwo hörte sie das Monster grollen, ihr Körper schmerzte sie überall, aber sie kroch langsam vorwärts. Schmerzen schossen durch ihren Körper. Langsam kroch sie aus dem Schlüsselloch und dann am Körper dieses Monstrums hinunter, über zusammengenietete Metallplatten. Es drehte und wendete sich und machte Jagd auf sie. Die Oberfläche war rutschig, doch ihre Fliegenfüße fanden Halt, und ihre Flügel halfen ihr, die Balance zu halten. Sie bewegte sich auf der schimmernden Oberfläche bis sie an einen riesigen Stellbolzen auf dem Rücken gelangte.
Sie brauchte ein Werkzeug. Sie dachte wieder an den Ozean, an die zunehmende Mondin, die gerade außerhalb ihrer Reichweite schien. Sie brauchte Hände, mit denen sie zupacken konnte, eine Form, wie ihren eigenen menschlichen Körper, der irgendwo lag, schwitzend, keuchend und diesem Kampf Raum gab. Mujer Serpiente, Mutter des Wandels, laß mich ich selbst sein, inmitten meines Selbst. Wieder verwandelte sie sich und hockte nun in Menschengestalt dem Ding auf dem Rücken wie ein Affe.
Wieder schrie und wand sich das Monstrum, drehte sich, bäumte sich auf, um sie abzuwerfen. Sie hielt sich fest, mehr konnte sie nicht tun. Sie konnte den Bogen aus Mondlicht nicht erreichen, konnte keine Veränderung herbeiführen. Das Monster bewegte sich mit erschrekkender Kraft, die umgebenden Bäume zerbarsten. Es sprang auf und warf sich mit aller Macht auf den Rücken. Schmerz zerriß sie schier. Sie wurde zusammengestaucht, war nicht in der Lage zu atmen. Kopf und Augen pochten. Der Wald war zertrümmert, der Strand zerklüftet.
Ganz entfernt ahnte ein Teil von ihr, was sie da sah: Es war die Reflektion der Ch'i-Welt über die Verschlechterung ihres eigenen Körperzustandes. Nun entstanden Löcher im Ozean, in denen das Wasser in Strudeln eingesaugt wurde, und die Wasser rissen den Wind und das Mondlicht mit sich. Der Meeresgrund fiel trocken. Und sie streckte sich abermals nach der sinkenden Mondin, und diesmal konnte sie sie fassen und hielt sie fest in der Hand.
In ihren Händen wuchs das Mondlicht zu einem Schraubenschlüssel, der sich wand und aufbäumte. Madrone hielt sich mit der linken Hand fest am Rücken des
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