Das Fünfte Geheimnis
Monsters, während sie mit der rechten Hand den Schlüssel über den Bolzen legte und ihn zu drehen begann. Der Bolzen war festgefroren. Verzweiflung stieg in ihr auf. Sie hatte nicht die Kraft, ihn zu bewegen. Ihre Beine verkrampften sich und ihr Griff verlor an Kraft. Schweiß rann ihr übers Gesicht. »Mama, Yemaya, Johanna, irgendjemand, wer auch immer«, jammerte sie. »Te suplico, ich bitte dich, hilf mir!«
Sie rief ihre letzten Kraftreserven zusammen und ließ sie alle in ihren Arm, in ihren Griff fließen. Das Monster warf sich hin und her, ihr Kopf wurde vor und zurückgeschlagen, bis ihr Nacken von dem Peitscheneffekt schmerzte. Aber sie hielt den Schraubenschlüssel fest umklammert und ließ nicht locker. Er schien sich zu bewegen, ganz langsam. Wieder warf sich das Untier mit aller Macht auf sie. Wieder schoß der Schmerz durch ihren Körper. Ihre linke Hand verkrampfte sich zur Kralle wie die metallischen Klauen des Monsters.
Der Schraubenschlüssel rutschte ab und sie brachte ihn mit einer ungeheuren Kraftanstrengung zurück an den Bolzen. Er bewegte sich wirklich und sie drückte noch fester. Der Bolzen machte eine Vierteldrehung.
Plötzlich war Hoffnung da, und diese Hoffnung gab ihr neue Energie. Sie drehte den Bolzen einmal und noch einmal. Das Tempo der Maschine wurde geringer. Es bellte und kreischte, aber die Bewegungen hatten jetzt weniger Kraft. Alles tat ihr weh, aber Zentimeter für Zentimeter lockerte sie den Bolzen.
Das Ende kam plötzlich. Der Bolzen drehte sich, der Kopf des Monstrums fiel klappernd zu Boden. Sie saß auf einem Haufen von Metallgewirr, der nach Aceton roch.
Madrone saß ganz still. Sie fühlte sich kühl. Das Fieber in der physischen Welt schien gebrochen. Die Krisis war überstanden, aber sie war auf allen Daseinsebenen erschöpft, so als wäre ihr Lebenskraft abgesaugt worden. Sie hatte gewonnen, aber sie war nicht sicher, ob es ihr gelingen würde, zurückzukehren.
Nur langsam wurde ihr bewußt, daß die Landschaft sich verändert hatte. Wald und Ozean waren verschwunden. Stattdessen befand sie sich an einem Ort, an dem sich die Pfade aller Möglichkeiten trafen, so wie viele Stränge sich zu einem Tau vereinigen, so wie unabwendbare Wendungen sich in Straßen verwandeln. Drei Straßen. Drei Kreuzwege. Sie befand sich genau im Zentrum, wo die drei Straßen zusammentrafen. Auf einem dreibeinigen Hocker auf der Mitte der Kreuzung saß eine alte, alte Frau im Straßenstaub und sah ihr ins Gesicht. Ihr schwarzes Gewand war aus einem Stoff, wie ihn Madrone noch niemals gesehen hatte. Er verhüllte ihre Figur vollständig, nur das runzelige alte Gesicht war unbedeckt. Sie erinnerte Madrone sofort an La Vieja, die Schnitterin. Das Gesicht verwandelte sich langsam in einen Schlangenkopf. Meine Kleidung ist rot und schwarz, dachte Madrone zusammenhanglos, wie die Farben von Guadeloupe. Sie hörte merkwürdige Geräusche und sah sich um. Zu ihren Füßen wanden sich unzählige kleine Schlangen, die schuppigen Leiber leuchteten im Sonnenlicht und ihr zischendes Züngeln übertönte alles. Und dann konnte sie ihr Singen hören:
Muyer Serpentine, cambia su piel,
Snake woman, shedding her skin...
Schlangenfrau, du wechselst deine Haut...
Die singenden Töne lagen in der Luft, und das sanfte Zischeln wurde lauter. Der Schlangenkopf schien sich aufzuspalten. Darunter konnte sie La Vieja sehen, Tiamat, die Dragon Lady, die Schlangenfrau – deren Gesichter übergingen in das Antlitz von Coatlicue, Mutter aller Götter, genannt Cihuacoatl. Das Gesicht war kalkweiß, als sei es mit dem Staub zerfallener Gebeine gepudert. Madrone neigte voller Ehrfurcht ihr Haupt. Die Schlangenfrau hatte die Kiepe vom Rücken genommen und hielt sie Madrone hin.
Madrone streckte die Hand danach aus und plötzlich war es ein Schlangenrachen, ein Geburtskanal, der pulsierend etwas vorantrieb, das nur ihre geschickten Hände ans Licht bringen konnten. Aber was sie zu Tage förderte, war kein Kind, sondern ein Bündel, eingehüllt in rotes und schwarzes Tuch. Sie wickelte es aus. Es war ein Messer aus schwarzem Obsidian. Madrone zitterte vor Angst. Was bedeutete das? Tod? Sie nahm das Messer in die Hand. Es fühlte sich gut an in ihrer Hand, wie das blitzende Skalpell, mit dem sie nach einer Geburt die Nabelschnur eines Neugeborenen sauber durchtrennte. Das war die Vollendung einer jeden Geburt, und gebären hieß ans Licht bringen, und auch der Tod war ein Zerschneiden der Schnur und ein ins
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