Das Fünfte Geheimnis
eindrang, der sich auf geheimnisvolle Weise zwischen Angst und Pein, zwischen Schmerz und Tod drängte. Die Kraft des Ch'i, die Energie meiner Seele, dachte Madrone, während sie fühlte, wie der Körper des Mädchens leichter und leichter wurde, wie neues Leben durch den kleinen Körper strömte und die Atemzüge regelmäßiger und kräftiger wurden. Ch'i, die Kraft des Lebens.
Fast automatisch streichelte Madrone mit ihrer nun kühlen Hand dem Mädchen die fieberheiße Stirn, sie fühlte, wie ihre Lebensenergien durch die Fingerspitzen in den Körper des Mädchens eindrangen. Sie fühlte aber auch, das war eigentlich nicht ihre eigene Hand. Es waren andere Hände, Hände hinter ihr, Hände uralter Frauen, weiser alter Frauen, und dahinter das knöcherne Gesicht der einen Uralten, La Vieja, der Großen Schnitterin des Todes.
Während Madrone so am Bett des Kindes saß, verblich vor ihren Augen die äußere Welt. Sie fühlte sich in den Bauch der Spinnenfrau versetzt, sah, wie Spinnweben die ganze Welt umgarnten und einfingen. Sie sah alles glühen und schimmern, wieder verdämmern und heller werden, roch den Duft frischer Kräuter und den leisen Aashauch des Todes. Dazwischen erkannte sie das Spinnwebnetz des Lebens. Die vielen verschiedenen Möglichkeiten der menschlichen Entfaltung, zwischen den Hohlwegen, den Tälern und den kurvigen Straßen über die Hügel zu fernen Zielen. Sie wußte, daß sie hier zu Hause war, seit grauen und undenklichen Vorzeiten, auf der Jagd, ein Mittel gegen Fieber und Krankheiten zu finden. Aber vergeblich.
Madrone wußte, es mußte noch andere Wege geben. Andere Wege, wenn auch viel gefährlichere. Alle hatten sie davor gewarnt. Einige Heiler, die es versucht hatten, waren gestorben. Aber sie wollte, sie mußte es einfach versuchen. Ihr Wunsch danach war übermächtig. Die City mußte leben, die Epidemie mußte gestoppt werden. Gefährlich oder nicht, es gab zuviel zu tun für die Gemeinschaft, und sie hatten ohnehin nicht genügend Hände für die vielen Aufgaben. Jedes einzelne Menschenleben war für die Gemeinschaft in dieser City wichtig.
Bin ich stark genug? Diese Frage stellte sich Madrone mit leiser Angst im Herzen.
Sie wurde plötzlich ganz ruhig. Heiß durchflutete sie das Gefühl von Stärke, von Zuversicht. Niemand würde ihr die Frage beantworten. Sie selbst mußte sie beantworten, und dazu gab es nur einen Weg. Ihr Göttinnen und Götter, ihr meine Ahnen, ihr alle seid diesen Weg gegangen, dachte sie. Aber niemand würde erscheinen und ihr die Entscheidung abnehmen. Es lag allein bei ihr, nur bei ihr, es war ihr
geis
. Sie gebrauchte unwillkürlich das alte keltische Wort für den Mut, der nötig ist, eine unbekannte und gefährliche Aufgabe in Angriff zu nehmen, für den Mut, der unabänderlich aufzuwenden ist, um ein Tabu zu brechen.
Das Kind in ihren Armen stöhnte. Das Mädchen war etwa sechs Jahre alt, ihr schönes braunes Haar war zu Zöpfen geflochten und mit blauen Bändern zusammengebunden. Irgend jemand sitzt zu Hause und sorgt sich um sein geliebtes Kind, hat ihr so sorgfältig und liebevoll die Zöpfe geflochten. Vorsichtig entspannte sich Madrone. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit weg von dem Kind, mehr auf sich selbst, öffnete behutsam ihr Inneres den geheimnisvollen Mächten. Sie nahm die Maske ab. Wie von starker Hand niedergedrückt, sank ihr Kopf über den Solarplexus des Kindes, sie spitzte die Lippen und saugte die unsichtbare Krankheit aus dem schmächtigen Körper heraus. Sie fühlte, wie der alte Mund der Schnitterin aufnahm, was sie aus dem Körper des Kindes saugte. Die Aura des Mädchens löste sich und wurde wieder klar.
Dies war, wie sie wußte, eine Jahrtausende alte Heilmethode, eine nicht ungefährliche. Schamanen und Medizinmänner überall auf der ganzen Welt hatten sie angewandt: Die Krankheit aus dem Leib des Kranken heraussaugen und sie im eigenen Körper unschädlich machen.
Unmittelbar danach begann Madrone zu fürchten, sie hätte einen Fehler gemacht. Es war alles so leicht gewesen. Viel zu leicht. Doch dann fühlte sie ein Rauschen in ihren Ohren, Fieberhitze stieg ihr ins Gesicht. Sie spürte, wie etwas Heißes ihren Körper durchzitterte, ihr in den Kopf, in die Augen und ins Gehirn schoß. War dies der Tod? Was hatte sie nur falsch gemacht? Ihr schwindelte und sie lehnte sich, plötzlich zu Tode erschöpft, gegen die Mauer, Schweißperlen auf der Stirn. Sie versuchte, die Götter anzurufen. La Vieja, die Große
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