Das fuenfte Imperium
klar.
So wie es ist - so aufregend war es; die Anatomie des Neugeborenen ließ sich nicht vorhersehen. Während Europa doch immer eine Kungelei aus ewig gleichem Personal vorstellte, das seine klapprigen Karren nach den jeweiligen Erfordernissen des Augenblicks auszurichten bemüht war, blieb Russland allzeit jung - doch war diese Jugend erkauft durch den völligen Verzicht auf Identität, denn jedes neue Monster hatte seinen Vorgänger bei der Geburt in blutige Fetzen gerissen (und war, den Gesetzen der Physik entsprechend, am Anfang klein, nahm aber rasend schnell an Gewicht zu). Das war ein gänzlich anders gearteter, unstetig-sprunghafter Evolutionsmechanismus, der dem sorgenvollen Beobachter schon im neunzehnten Jahrhundert nicht verborgen blieb. Ein kartesianischer Verstand, orientiert auf das persönliche Überleben, konnte dem freilich wenig Hoffnung abgewinnen - und so kam der Dichter zu der Ansicht, an Russland könne man nichts als glauben.
Nach dieser Erleuchtung begriff ich wieder einmal, wie viel Mut und Entschlossenheit es brauchte, um in diesem Land ein Vampir zu sein. Zugleich wuchs meine Verachtung gegenüber der chaldäischen Elite immer noch mehr: diesen klep-tomanischen Koprophagen, die die Überreste der zerfetzten Leiche in sich hineinschlangen und meinten, so »kontrollierten« sie die Lage oder »entschärften« sie gar. Im Übrigen stand ihnen die Begegnung mit ihrem Neugeborenen erst noch bevor, das einstweilen noch still im Inneren der Schottenwand hockte und Kräfte sammelte.
Derlei Gedanken schossen mir ein, zwei Minuten lang durch den Kopf. Bis ich auf einmal spürte, dass da ein düsteres, mystisches Mahngedicht aus mir hervorwollte - und just zum geforderten Thema.
Ich schrieb auf, was mir in den Sinn kam. Auf »Albanisch« war das schwierig, wie gesagt - weil besagter Netzjargon kaum über geeignete Konstruktionen verfügt, um die vor meinem inneren Auge vorüberziehenden Bilder in ihrer Subtilität und ihrem Gedankenreichtum wiederzugeben; doch alle übrigen Sprachregister waren blockiert, und jedes einzelne Wort musste ich mühselig vom Grunde meines Verstandes heraufklauben. Notgedrungen griff ich auf etwas sehr grobe Analogien zurück, die der raffinierten Bilderwelt des neunzehnten Jahrhunderts bei Weitem nicht genügten, doch dadurch gewann der Vers wenigstens an Expressivität. Als ich fertig war, blieben mir ganze fünf Minuten, um das Geschriebene noch einmal zu überlesen. Und da stand nun das Folgende:
Smith & Wesson der Archonten
Sprich, Obermacka Offsewörld: Geht jetzt dein Laden insse Binzzen? Wer wohl dein Mahnen noch erhört ? Hu kärs? Und wer kassiert die Zinsen?
Die Stimmung, Scheff, wird imma trüba. Tschamp insse Buuz, Män! Trutz dem Leu! Oder ist dir, o Herr, wer über? Wer hat den Größten? Glawmosstroi?
Juar weri kuhl. Disst die Auguren,
die’s Unheil in die Welt geraunt. Ättenschn, Alta. Deine Spuren
Skännt schon BiggBosz© im Andegraund.
Ich las die finstere Prophetie dreimal durch, verbesserte Schreibfehler. Nachdem aus dem jetzt noch ein izzt gemacht war, hatte ich das stolze Gefühl, mein eigenes Gedicht nicht mehr zu durchschauen. Klar war nur, wo die Überschrift herrührte: Es gab einen gnostischen Text, der Das Wesen der Archonten hieß, wir hatten ihn im Diskurs durchgenommen. (Damals hatte ich nicht viel mehr als einen passenden Namen für den gehobenen Innenstadtgriechen darin gesehen, Das Essen der Archonten oder so.) Nun hatte meine Streitmuse ihn mir aus dem Gedächtnis gekramt und umgekämmt.
Ich fand, das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die wesentlichen Konflikte des Zeitgeschehens kamen vor, die wichtigsten Player - Bin Laden und Glawmosstroi, die tonangebende Moskauer Baufirma - waren benannt. Dazu gleich doppelt der obskure »Fürst dieser Welt«: erst in Form eines dezenten historischen Verweises - die gnostische Schlange mit dem Löwenkopf -, und dann noch einmal im modernistisch geballten Klartext der letzten Zeile, wie das Reglement es verlangte. So begegneten sich in der Seele eines einfachen russischen Vampirs die großen Epochen unserer Geschichte und drückten einander verschwiegen die Hand.
Zwanzig Sekunden, bevor der nunmehr signalrot gefärbte Sekundenzeiger auf meinem Schirm über den Zielstrich rutschte, klickte ich auf SEND.
Ich hatte es geschafft.
Der Bildschirm flackerte und erlosch. Als er neu aufflammte, war er von einem senkrechten Balken in zwei Hälften geteilt. Rechts erschien mein Gedicht,
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