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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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von vornherein schon viel mehr begriffen, als Harriet hatte wahrhaben wollen.
    Doch obwohl Harriet die allgemeine Erleichterung teilte und kaum noch glauben konnte, dass sie den Stress so lange ausgehalten hatte, gelang es ihr nicht, Ben aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie dachte weder mit Liebe noch auch nur mit Zuneigung an ihn, und sie verabscheute sich selbst, weil es ihr nicht möglich war, auch nur den Ansatz eines normalen menschlichen Gefühls für ihn zu finden: Vielmehr waren es Angst und Grauen, die sie nächtelang wach hielten. David merkte, dass sie wach war, obwohl sie es vor ihm zu verbergen suchte.
    Eines frühen Morgens fuhr sie aus dem Schlaf hoch. Sie hatte fürchterlich geträumt, wenn sie auch nicht mehr wusste, was, und sagte: »Ich fahre hin und sehe nach, was sie mit Ben machen.«
    David öffnete die Augen, blieb regungslos liegen und sah über seinen Arm hinweg nach dem Fenster. Er hatte nur gedöst, nicht geschlafen. Harriet wusste, dass er diesen Moment gefürchtet hatte, und da war etwas an ihm, das ihr sagte: »In Ordnung, das war’s denn wohl, jetzt reicht es.«
    »David, ich muss ihn sehen.«
    »Lass es«, sagte er.
    »Ich muss ganz einfach.«
    Wieder sagte ihr die Art, wie er so dalag, ohne sie anzusehen und ohne mehr als diese zwei Silben zu sagen, dass sie sich nur schadete und dass er da ganz im Stillen seine eigenen Entscheidungen fällte. Er blieb noch ein paar Minuten liegen, stand dann auf, verließ das Zimmer und ging nach unten.
    Sobald Harriet in ihren Kleidern war, rief sie Molly an, die kalt und ärgerlich reagierte. »Nein, ich verrate dir seinen Aufenthaltsort nicht. Jetzt, wo ihr euch einmal dazu durchgerungen habt, lass es dabei.«
    Aber schließlich gab sie Harriet die Adresse.
    Wieder fragte sich Harriet, warum sie immer wie eine Unmündige oder Kriminelle behandelt wurde. Seit Bens Geburt war es ihr so ergangen. Und jetzt hatte sie den Beweis, dass alle sie stillschweigend verurteilt hatten. »Dabei ist mir doch nur ein Missgeschick widerfahren«, sagte sie sich, »ich hab doch kein Verbrechen begangen.«
    Ben war an einen Ort im Norden Englands gebracht worden, vier oder fünf Autostunden entfernt, vielleicht auch mehr, wenn sie Pech mit dem Verkehr hatte. Tatsächlich geriet sie in mehrere Staus, als sie durch den grauen, winterlichen Regen fuhr. Erst am frühen Nachmittag erreichte sie das massive dunkle Steingebäude in einem Hochmoortal, das sie in den treibenden Regenschleiern kaum erkannte. Die Anstalt stand groß und breit inmitten von trübseligem, immergrünem Gebüsch, und die regelmäßig angeordneten Fenster, drei Reihen übereinander, waren sämtlich vergittert.
    Harriet betrat eine kleine Empfangshalle, an deren Innentür eine handbeschriebene Karte klebte: »Bitte klingeln.« Sie klingelte und wartete, ohne dass etwas geschah. Ihr Herz klopfte laut. Sie spürte noch den Adrenalinstoß, der sie zu dieser Inspektionsreise getrieben hatte, aber die lange Fahrt hatte ihn gedämpft, und der bedrückende Anblick dieses Gebäudes sagte ihren Nerven, wenn nicht ihrem Verstand, dass es nun nichts mehr gab, an das sie sich zu ihrer Beruhigung klammern konnte, dass alles, was sie befürchtet hatte, zutraf. Auch wenn sie selbst nicht genau wusste, was das war. Sie klingelte noch einmal. Es war so still, dass sie das Schrillen der Klingel weit im Innern hörte. Nichts regte sich. Harriet entschloss sich gerade, um das Haus herumzugehen und nach einem Hintereingang zu suchen, als die Innentür abrupt aufgerissen wurde und eine schlampige junge Frau in Hosen, Wolljacke und einem dicken Schal erschien. Ihr Gesicht war blass und schmal, und die üppige blonde Lockenmähne war mit einem blauen Band zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie sah müde aus.
    »Ja?«, fragte sie.
    Harriet erkannte schon an dieser Begrüßung, dass sonst nie jemand freiwillig herkam.
    Sie sagte, schon jetzt störrisch: »Ich bin Mrs. Lovatt, und ich bin gekommen, um meinen Sohn zu besuchen.«
    Ganz offensichtlich war diese Anstalt, oder was immer es sein mochte, auf dergleichen nicht eingerichtet.
    Die junge Frau starrte Harriet an, erklärte sich mit einem unwillkürlichen kleinen Kopfschütteln für nicht zuständig und sagte: »Doktor MacPherson ist diese Woche nicht da.« Sie hatte einen starken schottischen Akzent.
    »Irgendwer muss ihn doch vertreten!«, erwiderte Harriet energisch.
    Die junge Frau schrak vor Harriets Art zusammen, lächelte unsicher und war sichtlich beunruhigt.

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