Das fünfte Kind. Roman
Ein kleines Mädchen wie eine auseinandergelaufene Teigmasse … Ein Püppchen mit kalkweißen, kugelrunden Armen, großen leeren Augen wie blaue Tümpel und offenem Mund, der eine geschwollene kleine Zunge zeigte. Ein schlottriger Junge war völlig schief und verdreht, als ob seine beiden Körperhälften nicht zueinandergehörten. Ein anderes Kind wirkte auf den ersten Blick normal, aber dann sah Harriet, dass es keinen Hinterkopf hatte, da war nur ein kleines Gesicht, das sie anzuschreien schien. Reihenweise Missgeburten, fast alle schliefen, und alle waren ruhig. Sie waren mit Drogen förmlich vollgepumpt. Allerdings, ganz still war es nicht. Aus einer Bettstelle, die mit weißen Laken verhängt war, drang ein ersticktes Schluchzen, und das schrille, unregelmäßige Geschrei, das schon vorher an Harriets Nerven gezerrt hatte, schien nun näher zu sein. Der Gestank von Exkrementen überlagerte den der Desinfektionsmittel. Dann war sie heraus aus diesem albtraumgleichen Saal und in einem Korridor, der dem ersten aufs Haar glich. An seinem Ende sah sie die junge Frau, gefolgt von dem jungen Mann, ihr ein Stück entgegenkommen und dann wieder nach rechts abbiegen. Harriet begann zu rennen, ihre Schritte hallten auf dem Holzboden wider, und sie bog ab, wo die beiden verschwunden waren. Unversehens fand sie sich in einem kleinen Raum wieder, in dem mehrere Rolltischchen mit Medizinflaschen und Instrumenten standen. Sie lief quer durch ihn hindurch und befand sich nun in einer langen zementierten Passage, deren Türen alle mit vergitterten Überwachungsluken versehen waren. Der junge Mann und das Mädchen öffneten gerade eine dieser Türen, als Harriet sie einholte. Alle drei atmeten schwer.
»Scheiße«, sagte der junge Mann, womit er Harriets Anwesenheit meinte.
»Buchstäblich«, sagte Harriet. Die Tür öffnete sich in eine quadratische weiße Kammer, deren Wände mit glänzendem, hier und da festgeknöpftem Plastik gepolstert waren. Es sah aus wie ein billiges Lederimitat. Auf dem Boden auf einer grünen Schaumgummimatratze lag Ben. Er war nicht bei Bewusstsein. Er war nackt und steckte lediglich in einer Zwangsjacke. Seine blasse, belegte Zunge ragte ihm aus dem Mund. Die Haut war leichenblass, grünlich. Alles, die Wände, der Boden und Ben selbst, war mit Kot beschmiert. Eine Pfütze von dunkelgelbem Urin breitete sich unter der Matratze, die patschnass sein musste, aus.
»Ich hab Ihnen ja gesagt, Sie sollten warten!«, schrie der junge Mann. Er nahm Ben bei den Schultern, das Mädchen hielt seine Füße. An der Art, wie sie ihn anfassten, sah Harriet, dass sie nicht brutal waren. Aber das war gar nicht der Punkt. Sie trugen Ben, wobei sie darauf bedacht waren, ihn so wenig wie möglich zu berühren, hinaus, ein kurzes Stück den Korridor entlang und dann wieder zu einer anderen Tür hinein. Harriet folgte ihnen und blieb beobachtend stehen. Dieser Raum hatte an einer Wand nichts als Waschbecken, ein riesiges Bad und eine zementierte Bodenschräge mit vielen Wasserhähnen. Hierauf legten sie Ben, befreiten ihn von seiner Zwangsjacke und duschten ihn, nachdem sie die Wassertemperatur reguliert hatten, gründlich mit einem Schlauch ab.
Harriet lehnte sich an die Wand und sah zu. Sie war derart schockiert, dass sie gar nichts mehr empfand. Ben rührte sich nicht. Er lag wie ein gestrandeter Fisch auf der Zementschräge, wurde mehrmals von dem Mädchen umgedreht, wobei der junge Mann den Schlauch jedes Mal beiseitehielt, und schließlich auf eine Bank gelegt und abgetrocknet. Dann nahmen sie eine saubere Zwangsjacke von einem Stapel und legten sie Ben an.
»Wozu das?«, fragte Harriet heftig. Sie bekam keine Antwort.
Das bewusstlose, eingeschnürte Kind, dessen Zunge hin und her schlackerte, wurde aus dem Waschraum über den Korridor in ein anderes kleines Zimmer geschafft, in dem ein niedriger Zementsockel wohl als Bett diente. Die beiden legten Ben darauf, traten zurück und seufzten.
»Also, da ist er«, sagte der junge Mann. Er stand noch einen Moment mit geschlossenen Augen da, um sich zu erholen, und zündete sich dann eine Zigarette an. Die junge Frau streckte wortlos die Hand aus, und er gab ihr auch eine. Beide rauchten und sahen Harriet erschöpft und mutlos an.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Herz tat ihr weh, als handelte es sich um eines ihrer anderen, normalen Kinder, denn Ben kam ihr jetzt normaler vor als je, da seine harten, kalten, fremdartigen Augen geschlossen waren.
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