Das fünfte Kind. Roman
Felsmalereien existieren. Als die Gruppe nach einem abenteuerlichen Marsch bei den Malereien angekommen ist und sie betrachtet, schwindet das Sonnenlicht, bis sie nicht mehr zu sehen sind. Ben ist verzweifelt und stürzt einen Felshang hinunter in den Tod.
Schon die Zusammenfassung zeigt, dass
Ben in der Welt
im Vergleich zu
Das fünfte Kind
sehr viel mehr Züge eines Märchens oder einer Fabel trägt. Abgesehen von der rätselhaften Natur des Protagonisten selbst und neben der eindeutigen Einteilung der Figuren in Gute und Böse und den abenteuerlichen Verwicklungen tragen dazu auch die exotischen Schauplätze und nicht zuletzt die in räumlicher und zeitlicher Hinsicht abschweifende Erzählweise bei. Im Zuge einer Online-Diskussion im Jahr 2000 erläutert die Autorin: »Ich verwende hier eine Technik aus der Tradition der mündlichen Überlieferung von Geschichten. Ich weiß nicht, ob jemand schon einmal einem traditionellen Geschichtenerzähler zugehört hat – aber die gehen so vor: Sie unterbrechen die Handlung um die Hauptfigur und wenden sich einer Nebenfigur zu, von der sie schließlich sagen: ›John Jackson begegnen wir jetzt nicht mehr, seine Geschichte ist zu Ende, er geht jetzt heiraten (…) und lebt dann glücklich und in Freuden.‹ Eine interessante Technik, sie weckt das Publikum auf und erhöht die Konzentration auf die Geschichte.« Wie schon in
Das fünfte Kind
sei Ben auch hier ein Wesen am falschen Ort, doch nun sei er gereift und habe eingesehen, dass er seine Gewaltausbrüche, seinen Zorn und seine Impulse kontrollieren müsse. »Ich habe mich in beiden Büchern für die Wirkung interessiert, die er auf andere hat. In diesem Buch nun betrachtet man all das durch seine Augen.«
Im Grunde, so Doris Lessing, sei Ben eine herzzerreißende Romanfigur, und man erkenne in
Ben in der Welt
, wie allein er sei. Während also in
Das fünfte Kind
die destruktive Wirkung im Vordergrund steht, die Ben auf seine Familie hat, nimmt man den Fremdling in
Ben in der Welt
eher als Opfer seiner tragischen genetischen Disposition wahr. Im ersten Fall erzählt Doris Lessing unter Verwendung fantastischer Elemente letztendlich in der Form des realistischen Romans – im zweiten arbeitet sie verstärkt mit märchen- oder legendenhaften Mitteln.
Auf märchen- und legendenhafte Gestaltungsweisen hat Doris Lessing um die Jahrtausendwende und danach auch in anderen Werken zurückgegriffen. Nachdem in den neunziger Jahren eine zweibändige Autobiografie, Kurzgeschichten, Reportagen und ein weiterer realistischer Roman erschienen waren, veröffentlichte sie 1999 mit
Mara und Dann
ein modernes Märchen, das in ferner Zukunft in einem fiktiven Land spielt. Auf der Flucht vor den Katastrophen einer zerstörten Natur durchqueren die Geschwister Mara und Dann hier in einer beispiellosen Odyssee einen ganzen Kontinent und entdecken dabei nicht nur die Geschichte ihrer Vorfahren, sondern werden gleichzeitig zu Verfechtern der Gerechtigkeit. Auch den Lebensweg dieses Geschwisterpaars hat Doris Lessing fortgeschrieben, denn 2005 erschien
Die Geschichte von General Dann und Maras Tochter, von Griot und dem Schneehund.
Darin konzentriert sie sich auf die Figur des Dann, der in einer von Bürgerkriegen verwüsteten Welt auf der Suche nach seiner Identität und nach den Spuren einer untergegangenen Kultur ist.
Mit
Die Kluft
von 2007 betritt die Nobelpreisträgerin – nach dem realistischen Roman
Ein süßer Traum
und der Geschichtensammlung
Ein Kind der Liebe
– einmal mehr das Terrain der Legenden und Fabeln. In diesem Roman beschreibt sie eine mythische Gesellschaft, in der sich Männer und Frauen mit den ihnen eigenen Mitteln zu behaupten versuchen.
Doris Lessing hat immer betont, dass Mythen, Legenden, Visionen, Symbole, Träume, Märchen, Fabeln und Fantasien als uralte Formen des Erzählens noch heute ihre Berechtigung und ihre Funktion besitzen, zumal sich mit ihrer Hilfe sowohl kritische als auch utopische Inhalte transportieren lassen. Sie dienen ihr als Basis fantastischer Romane oder werden als Details in ansonsten realistisch erzählte Werke eingeflochten. Mit der Verwendung dieser Formen oder Mittel – von
Anweisung für einen Abstieg zur Hölle
und
Die Memoiren einer Überlebenden
über den »Canopus in Argos«-Zyklus bis hin zu
Das fünfte Kind
und den nachfolgenden Werken – zielt Doris Lessing jederzeit auf die gegenwärtige Gesellschaft und hält ihr den Spiegel vor.
Barbara Christ
Über Doris
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