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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Mitleiderregend, so hatte sie ihn noch nie gesehen. »Ich glaube, ich nehme ihn mit nach Hause«, hörte sie sich sagen.
    »Wie Sie meinen«, sagte der junge Mann kurz.
    Das Mädchen sah Harriet neugierig an, als vermutete sie in ihr einen Teil des Phänomens, das Ben ausmachte, etwas von seiner Art. »Was wollen Sie denn mit ihm tun?«, fragte sie, und Harriet hörte Angst in ihrer Stimme. »Er hat solche Kräfte! Ich habe so etwas noch nie erlebt.«
    »So etwas haben wir alle noch nicht erlebt«, sagte der junge Mann.
    »Wo sind seine Sachen?«
    Er lachte, zum ersten Mal, ungläubig, und sagte: »Sie wollen ihn anziehen und mit nach Hause nehmen, einfach so?«
    »Warum nicht? Er war doch angezogen, als er hier ankam?«
    Die beiden – Wärter, Sanitäter, Schwester oder was sie auch sein mochten – tauschten Blicke aus. Dann zogen sie an ihren Zigaretten.
    »Ich glaube, Sie verstehen nicht ganz, Mrs. Lovatt«, sagte er. »Zunächst einmal: Wie lange müssen Sie fahren?«
    »Vier bis fünf Stunden.«
    Er lachte wieder, darüber, wie unmöglich alles war, über
sie
, Harriet, und sagte: »Angenommen, er kommt unterwegs zu Bewusstsein, was dann?«
    »Nun, dann erkennt er mich«, erwiderte sie und sah an ihren Gesichtern, dass sie dummes Zeug redete. »Also gut, was raten Sie mir?«
    »Wickeln Sie ihn in ein paar Decken, aber über der Zwangsjacke«, sagte das Mädchen.
    »Und dann fahren Sie, als wäre der Teufel hinter Ihnen her«, sagte der junge Mann.
    Schweigen. Die drei standen da und maßen einander mit langen, nüchternen Blicken.
    »Schön, versuchen Sie Ihr Glück«, sagte das Mädchen plötzlich, voller Empörung gegen das Schicksal. »Ich habe sowieso zum Monatsende gekündigt.«
    »Ich auch. Keiner hält hier länger als ein paar Wochen durch«, sagte der junge Mann.
    »Ich verstehe«, sagte Harriet. »Ich werde mich bestimmt nicht beschweren oder sonst was tun.«
    »Sie müssen ein Formular unterschreiben. Zu unserer Absicherung«, sagte er.
    Aber sie konnten es nicht so ohne Weiteres finden. Endlich, nach langem Herumkramen im Aktenschrank, förderten sie ein vor langen Jahren vervielfältigtes Blatt zutage, das besagte, dass Harriet die Anstalt von jeder Verantwortung entband.
    Harriet nahm Ben auf, wobei sie ihn zum ersten Mal berührte. Er war eiskalt und lag so schwer in ihren Armen. »Totes Gewicht«, ging ihr durch den Kopf. Sie trat mit ihm auf den Korridor hinaus und sagte: »Nicht noch einmal durch den Krankensaal.«
    »Wer könnte Ihnen das übel nehmen«, sagte der junge Mann mit matter Ironie. Er hatte sich inzwischen ein paar Decken auf die Arme gepackt, und sie hüllten Ben in zwei davon ein, trugen ihn hinaus zum Auto, legten ihn auf den Rücksitz und breiteten die übrigen Decken über ihn. Nur sein Gesicht war noch zu sehen.
    Harriet stand mit den beiden jungen Leuten neben ihrem Wagen. Sie konnten einander kaum mehr erkennen. Bis auf die Scheinwerfer und die matten Lichter aus dem Haus war es stockdunkel. Wasser quatschte unter ihren Füßen. Der junge Mann nahm ein Päckchen aus seiner Kitteltasche, das eine Injektionsspritze, zwei Kanülen und einige Ampullen enthielt.
    »Das hier sollten Sie lieber mitnehmen«, sagte er.
    Da Harriet zögerte, sagte das Mädchen: »Mrs. Lovatt, Sie sind sich vielleicht nicht klar …«
    »Bis zu vier Injektionen pro Tag, nicht mehr«, sagte der junge Mann.
    Harriet nickte, nahm das Päckchen und stieg ein. Als sie den Fuß schon auf dem Gaspedal hatte, fragte sie: »Sagen Sie mir eins: Wie lange hätte er das hier noch überlebt?«
    Die beiden Gesichter waren im Dunkeln zwei undeutliche weiße Flecken, aber Harriet sah, dass der junge Mann sich kopfschüttelnd abwandte. Die Stimme des Mädchens drang zu ihr herüber: »Keins von den Kindern hält das lange durch. Aber der hier … Er ist sehr kräftig, das kräftigste Kind, das ich je gesehen habe.«
    »Was bedeutet, dass er länger durchgehalten hätte?«
    »Nein«, sagte er, »das bestimmt nicht. Er hat sich nur derart gewehrt, weil er so stark ist, dass er entsprechend stärkere Spritzen bekommen hat.
Das
bringt sie um.«
    »Danke, nun weiß ich Bescheid«, sagte Harriet, »danke Ihnen beiden.«
    Sie sahen ihr nach, als sie wegfuhr, verschwanden aber fast sofort im regnerischen Dunkel. Als Harriet die Auffahrt verließ, sah sie die beiden unter dem spärlich beleuchteten Vorbau stehen, eng beieinander, als widerstrebte es ihnen hineinzugehen.
    Sie fuhr, so schnell es ihr bei dem Winterregen

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