Das fünfte Kind. Roman
blitzenden Augen, noch ganz voll von den Aufregungen der Wildnis, der sie angehört hatten. Schwer atmend standen sie da, und ihre Augen gewöhnten sich langsam wieder an die Wirklichkeit des warmen, hellen Familienraums und ihrer Eltern, die dasaßen und sie ansahen. Sekundenlang war es ein Zusammentreffen fremder Lebensformen: Die Kinder waren Teil einer geheimnisvollen, wilden Urtümlichkeit gewesen, die noch in ihrem Blut pochte, aber nun mussten sie beide ihr wildes Ur-Ich wieder hinter sich lassen und sich auf ihre Familie umstellen. Harriet und David fühlten mit ihnen, aus ihrer Fantasie und den Erinnerungen an ihre eigene Kindheit heraus. Gleichzeitig sahen sie sich selbst überdeutlich: zwei Erwachsene, dasitzend, zahm, domestiziert, fast bemitleidenswert, so entfernt von Freiheit und Wildnis.
Angesichts der Eltern, die ausnahmsweise einmal ganz allein waren, ohne die Geschwister, vor allem ohne Ben, lief Helen zu ihrem Vater, Luke zu seiner Mutter, und Harriet und David umarmten ihre beiden kleinen Abenteurer, ihre Kinder, und drückten sie fest an sich.
Schon am nächsten Morgen kam das Auto, ein Kleinbus, um Ben abzuholen. Harriet hatte gewusst, dass es so weit war, weil David nicht zur Arbeit gefahren war. Er war zu Hause geblieben, um sie »ruhig zu halten«! David brachte die Koffer und Taschen herunter, die er in aller Stille gepackt hatte, während Harriet mit dem Frühstück für die Kinder beschäftigt gewesen war.
David brachte alles zum Wagen. Mit verbissener Miene, sodass Harriet ihn kaum wiedererkannte, hob er Ben, der im großen Wohnzimmer saß, vom Boden auf, trug ihn zum Kleinbus, stopfte ihn hinein und schlug die Tür zu. Dann kehrte er schnell zu Harriet zurück, immer noch mit diesem harten Gesicht, legte den Arm um sie, drehte sie vom Anblick des Wagens weg, der sich bereits in Fahrt gesetzt hatte (sie konnte gellendes Schreien aus seinem Innern hören), und zog sie zum Sofa, wo er, ohne sie loszulassen, ein übers andere Mal sagte: »Es geht nicht anders, Harriet. Es geht nicht.« Sie weinte, wegen des Schreckens, vor Erleichterung und vor allem aus Dankbarkeit für David, der die ganze Verantwortung übernommen hatte.
Als die Kinder nach Hause kamen, sagten sie ihnen, Ben wohne jetzt bei anderen Leuten.
»Bei Oma?«, fragte Helen hastig.
»Nein.«
Vier misstrauische und verstörte Augenpaare leuchteten plötzlich wie befreit auf. Die Kinder reagierten fast hysterisch. Sie tanzten herum, außerstande, sich zu mäßigen, und taten dann so, als wäre das alles ein Spiel, das ihnen gerade in diesem Moment eingefallen war.
Noch beim Abendessen wussten sie sich vor Fröhlichkeit und Gekicher nicht zu halten. Aber in eine kurze Stille hinein fragte Jane plötzlich mit piepsiger Stimme: »Werden wir nun auch weggeschickt?« Sie war ein gleichmütiges, ruhiges kleines Mädchen, Dorothy in Miniatur, und sagte selten ein überflüssiges Wort. Aber jetzt hingen ihre großen blauen Augen schreckerfüllt am Gesicht ihrer Mutter.
»Nein, natürlich nicht«, sagte David barsch.
Luke erklärte: »Ben ist nur weggebracht worden, weil er nie richtig zu uns gehört hat.«
In den nächsten Tagen dehnte sich die Familie aus wie Papierblumen in Wasser: Harriet verstand immer besser, was für eine Last Ben gewesen war, wie er sie alle unter Druck gesetzt und wie die anderen Kinder darunter gelitten hatten. Sie begriff, dass sie viel mehr gewusst und besprochen haben mussten, als die Eltern es sich hatten träumen lassen, und wie rührend sie bemüht gewesen waren, mit Ben auszukommen. Aber seit Ben aus dem Haus war, leuchteten ihre Augen, sie sprühten vor guter Laune und kamen alle paar Minuten mit kleinen Gaben an, einem Bonbon oder etwas Selbstgebasteltem: »Für dich, Mama.« Oder sie warfen sich ihr an den Hals, küssten und streichelten sie und beschnupperten ihr Gesicht wie kleine Kälber. Und David nahm mehrere Tage Urlaub, um sich den Kindern zu widmen – und ihr. Er ging sehr zart und behutsam mit ihr um. »Als ob ich krank wäre«, rebellierte es in ihr. Natürlich dachte sie dauernd an Ben, der irgendwo eingesperrt war wie ein Gefangener. Immer wieder sah sie den schwarzen Kleinbus vor sich, hörte sein Wutgeschrei, als man ihn abtransportierte.
Doch die Tage vergingen, und Normalität erfüllte das Haus. Harriet hörte, wie die Kinder von den Osterferien sprachen. »Diesmal wird es wieder richtig schön werden, jetzt, wo Ben nicht mehr da ist«, sagte Helen. Sie hatten tatsächlich
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