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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Eltern hin- und hergerissen zu werden. »Ja, ich stimme dem zu. Und auch Harriet wird es irgendwann einsehen müssen. Was mich betrifft, ich bin schon jetzt so weit. Ich glaube nicht, dass ich es noch länger aushalte.« Und nun sah er seine Frau an, mit einem flehenden, leidenden Blick, der nichts weiter sagte als: »
Bitte
, Harriet.
Bitte!
«
    »Also gut«, sagte Harriet, »wenn wir einen geeigneten Platz finden …« Damit begann sie zu weinen.
    Ben kam gerade wieder aus dem Garten herein und sah von einem zum anderen, wobei er den üblichen Abstand hielt. Er trug eine braune Latzhose und ein braunes Hemd, beides aus strapazierfähigem Stoff. Alle seine Sachen mussten dick und fest sein, denn er zerriss sie, zerstörte sie. Mit seinem strohgelben, tief in die Stirn wachsenden Stoppelhaar, seinen steinernen Augen, deren Lider kaum schlugen, seinem krummen Rücken, den breitbeinig auf den Boden gepflanzten Füßen, den eingeknickten Knien und geballten Fäusten sah er mehr denn je wie ein finsterer Gnom aus. »Sie heult«, stellte er fest, womit seine Mutter gemeint war. Er nahm ein Stück Brot vom Tisch und ging hinaus.
    »Und was«, fragte Harriet, »was wollt ihr denen tatsächlich sagen?«
    »Überlass das nur uns«, sagte Frederick.
    »Ja«, sagte Molly.
    »Mein Gott!«, sagte Angela mit einer Art sarkastischer Anerkennung. »Manchmal, wenn ich mit euch zusammen bin, verstehe ich dieses Land voll und ganz.«
    »Danke«, sagte Molly.
    »Danke«, sagte Frederick.
    »Du bist unfair, Mädchen«, sagte Dorothy.
    »Fair«
, sagten da Angela, Harriet und Sarah, ihre Töchter, wie aus einem Munde.
    Und daraufhin lachten plötzlich alle, außer Harriet. Auf diese Weise wurde Bens Schicksal entschieden.
    Ein paar Tage später rief Frederick an und sagte, Molly und er hätten einen Platz gefunden und man werde Ben mit einem Wagen abholen. Ja, gleich. Schon morgen.
    Harriet geriet außer sich. Diese Hast, diese … ja, diese Unbarmherzigkeit! Und welcher Arzt hatte sie dazu ermächtigt? Oder würde es noch tun? Ein Arzt, der Ben nicht einmal gesehen hatte? Harriet stellte David all diese Fragen, und seinem Zögern entnahm sie, dass vieles hinter ihrem Rücken geschehen war. Seine Eltern hatten ihn in seinem Büro gesprochen. David hatte etwas wie »Ja, ich mache das schon« gesagt, als Molly, die Harriet plötzlich hasste, sagte: »Du musst jetzt Harriet gegenüber fest bleiben.«
    »Jetzt heißt es, er oder wir«, sagte David zu Harriet. Und dann fügte er mit einer Stimme voll eisiger Abneigung gegen Ben hinzu: »Wahrscheinlich ist er damals vom Mars gefallen. Er kann jetzt ruhig zurückkehren und berichten, was er hier unten vorgefunden hat.« Er lachte, grausam, wie Harriet fand, der, auch wenn sie es nicht aussprach, jetzt bewusst wurde, was sie natürlich im Grunde schon geahnt hatte: Ben würde in dieser »Anstalt«, was immer das sein mochte, keine hohe Lebenserwartung beschieden sein.
    »Er ist doch noch ein kleines Kind«, sagte sie. »Und er ist
unser Kind

    »Nein, ist er nicht«, sagte David, endgültig. »Jedenfalls nicht meins.«
    Sie waren im Wohnzimmer. In einiger Entfernung schrillten Kinderstimmen aus dem dunklen, winterlichen Garten. David und Harriet standen gleichzeitig auf, um die schweren Fenstervorhänge beiseitezuziehen. Sie erkannten die schemenhaften Umrisse von Bäumen und Sträuchern, und das Licht aus dem geheizten Zimmer fiel über den Rasen bis an das kahle, schwarze Gestrüpp im Hintergrund. Nässe glitzerte auf den Zweigen, und der Stamm einer Birke leuchtete weiß hervor. Soeben tauchten zwei kleine, ununterscheidbare, in wattierte Jacken, Hosen und Pudelmützen gekleidete Gestalten unter einem düsteren Ilex-Dickicht auf und näherten sich dem Haus. Es waren Helen und Luke, auf irgendeiner Abenteuertour. Beide stocherten mit langen Stöcken hier und da im vorjährigen Laub herum.
    »Da ist er!«, schrie Helen plötzlich triumphierend auf, und die Eltern sahen, was da ans Licht befördert worden war: der im letzten Sommer verlorene rot-gelbe Plastikball. Er war schmutzig und eingedellt, aber noch ganz. Die beiden Kinder begannen einen ausgelassenen, rasch stampfenden Rundtanz und warfen den Ball abwechselnd in die Höhe. Dann rannten sie unvermittelt und ohne ersichtlichen Grund auf die Terrassentür zu. Ihre Eltern setzten sich aufs Sofa, und gleich danach flog die Glastür nach innen auf, und die beiden leichten, flinken Geschöpfe platzten herein, mit frostgeröteten Wangen und

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