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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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»Warten Sie bitte«, murmelte sie und ging wieder hinein. Harriet folgte ihr, bevor die große Tür sich wieder schloss. Die junge Frau warf einen Blick über die Schulter, als wollte sie sagen: »Sie müssen draußen bleiben!«, aber stattdessen sagte sie: »Ich werde jemanden holen«, und verschwand in dem langen, dunklen Korridor, der mit einer Reihe dämmriger Deckenleuchten ausgestattet war, die kaum die Düsternis durchbrachen. Es roch nach Desinfektionsmitteln. Absolute Stille. Nein, nach einer Weile hörte Harriet doch etwas, ein dünnes, hohes Kreischen, das einsetzte und abbrach und von Neuem begann, von der Rückseite des Gebäudes kommend.
    Weiter geschah nichts. Harriet ging ins Vestibül zurück, das sich ebenfalls schon abendlich verdunkelte. Der Regen hatte sich sintflutartig verstärkt und rauschte kalt hernieder. Von der Hochmoorlandschaft war nichts mehr zu sehen.
    Sie klingelte mehrmals, fordernd, und ging wieder in den Korridor.
    Weit hinten erschienen nun zwei Gestalten unter dem spärlichen Deckenlicht und kamen auf sie zu. Ein junger Mann in einem nicht ganz sauberen weißen Kittel begleitete die junge Frau, die jetzt eine Zigarette im Mund hatte und die Augen vor dem Rauch zusammenkniff. Beide wirkten müde und ratlos.
    Es war ein gewöhnlicher junger Mann, auch wenn er alles in allem ziemlich abgezehrt wirkte; im Einzelnen, was Hände, Gesicht, Augen anging, zeigte er keine besonderen Auffälligkeiten, und doch hatte er etwas Verzweifeltes, als ob er voller Zorn oder Hoffnungslosigkeit stecken würde.
    »Sie hätten nicht kommen dürfen«, sagte er rasch, aber sonderbar unsicher. »Bei uns gibt es keine Besuchstage.« Seine Stimme, nasal und tonlos, verriet einen südlichen Londoner Stadtteil.
    »Nun bin ich aber hier«, sagte Harriet, »und ich will meinen Sohn sehen. Ben Lovatt.«
    Er zog hörbar den Atem ein und blickte auf das Mädchen, das seinerseits stumm die Lippen schürzte und die Brauen hob.
    »Hören Sie zu«, sagte Harriet. »Ich glaube, Sie verstehen mich nicht ganz. Ich lasse mich nicht so einfach abwimmeln. Ich bin stundenlang gefahren, um meinen Sohn zu besuchen, und das werde ich jetzt tun.«
    Er sah, dass es ihr ernst war. Er nickte, als wollte er sagen: »Ja, aber darum geht es hier nicht.« Dann sah er sie scharf an. Sie wurde gewarnt, und zwar von jemandem, der die Verantwortung dafür übernahm. So bemitleidenswert er auch erschien, überarbeitet und unterernährt (sicher hatte er diesen Job nur angenommen, weil kein anderer zu bekommen war), so sprach aus ihm doch das unselige Gewicht seiner augenblicklichen Position, und seine rot geränderten, müden Augen waren streng und autoritär. Man musste ihn ernst nehmen.
    »Im Allgemeinen«, sagte er, »kommen die Leute, die ihre Kinder hierher abgeschoben haben, nie wieder zu Besuch.«
    »Wissen Sie, Sie haben ja keine Ahnung«, sagte das Mädchen.
    Harriet hörte sich selbst herausplatzen: »Ich habe es satt, dauernd gesagt zu bekommen, dass ich nichts verstehe, dieses nicht und jenes nicht. Ich bin die Mutter des Kindes. Ich bin Ben Lovatts Mutter. Kapieren Sie das endlich?«
    Plötzlich verstanden sie sich alle drei, wenn auch nur im verzweifelten Eingeständnis eines gemeinsamen schlimmen Schicksals.
    Er nickte und sagte: »Gut, ich gehe und sehe nach …«
    »Und ich komme mit«, sagte Harriet.
    Das fuhr ihm in die Knochen. »Oh – nein!«, rief er. »Das werden Sie nicht!« Er sagte etwas zu dem Mädchen, das überraschend schnell durch den Korridor zurückrannte. »Sie warten hier«, sagte er zu Harriet und ging ihr mit langen Schritten nach.
    Harriet sah das Mädchen sich nach rechts wenden und verschwinden, und einem Impuls folgend öffnete sie einfach eine der Türen rechter Hand. Sie sah den jungen Mann bittend oder warnend den Arm heben, als das, was hinter der Tür war, sie erreichte.
    Sie befand sich am Ende eines langen Krankensaales, an dessen Wänden eine Menge Kinderbetten mit und ohne Gitter standen. In den Betten lagen – Monster. Während Harriet schnell auf die gegenüberliegende Tür zustrebte, sah sie mehr als genug. Jedes Bett enthielt ein Baby oder ein Kleinkind, bei dem das menschliche Grundmuster irgendwie aus den Fugen geraten war, manchmal nur leicht, manchmal auf grauenerregende Weise. Ein Baby wie ein Semikolon, ein haltloser Wasserkopf auf einem stängeldünnen Körper … Dann ein Etwas wie eine Stabheuschrecke, mit riesigen Froschaugen über einem Gerüst starrer Extremitäten …

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