Das fünfte Kind. Roman
verlorenen Freunde ab. Mehr als einmal, wenn er verschwunden war, fand Harriet ihn dann in »Betty’s Caff«, wo er einsam an einem Tischchen saß und die Tür im Auge behielt, in der seine Kumpel jeden Moment erscheinen konnten. Einmal, als er mit seiner Mutter und Paul noch einkaufen ging, sah er ein jüngeres Mitglied von Johns Clique vor einem Schaufenster stehen und rannte strahlend, völlig verwandelt und vor Freude jauchzend auf ihn zu. Aber der Junge sagte bloß: »Ach, du bist’s, Gremlin. Hallo, Irrer«, und wandte sich gleichgültig ab. Ben stand wie festgenagelt da, ungläubig, mit halb offenem Mund, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. Er brauchte lange, um das zu begreifen. Sobald er mit Harriet und Paul zu Hause war, riss er wieder aus und lief zurück in die Stadt. Sie folgte ihm nicht. Er würde zurückkommen! Er hatte ja sonst niemanden mehr, und sie war immer froh, Paul einmal für sich allein zu haben. Falls Paul da war.
Einmal kam Ben ins Haus gepoltert und tauchte mit einem Hechtsprung unter den großen Familientisch. Kurz danach erschien eine Polizistin und fragte Harriet: »Wo ist der Junge? Gehört er zu Ihnen?«
»Er ist unter dem Tisch«, sagte Harriet.
»Unter dem … Aber warum denn? Ich wollte nur wissen, ob er sich nicht verirrt hat. Wie alt ist er?«
»Älter, als er wirkt«, sagte Harriet. »Komm da raus, Ben, alles in Ordnung.«
Aber er wollte nicht: Er saß geduckt auf allen vieren und beobachtete die blank geputzten Schuhspitzen der Polizistin, die dicht vor ihm stand. Er erinnerte sich genau, wie man ihn einmal gepackt und in einem schwarzen Wagen abtransportiert hatte: Uniformen, der Geruch des Offiziellen.
»Nun«, sagte die Polizistin, »die Leute haben sicher schon gedacht, ich wollte ihn entführen, so wie ich hinter ihm her war. Aber ich konnte ihn nicht einfach so herumlaufen lassen, er könnte tatsächlich gekidnappt werden.«
»Diese Freude macht er uns nicht«, scherzte Harriet, jeder Zoll die nette, verständnisvolle Mama. »Ihr Glück, dass er Sie nicht entführt hat.«
»Ach, so ist das mit ihm?« Und die Polizistin ging lachend ihrer Wege.
David und Harriet lagen nebeneinander in ihrem großen Ehebett. Die Lichter waren aus, das Haus war still. Zwei Türen weiter schlief Ben, hoffentlich. Und vier Türen weiter, am Ende des Flurs, schlief Paul, der es nie versäumte, sich einzuschließen. Es war schon spät, und Harriet wusste, dass David knapp vor dem Einschlafen war. Sie ließen immer einen großen Zwischenraum zwischen sich, aber mittlerweile nicht mehr aus stummem Zorn oder aus Erbitterung. David war viel zu überarbeitet, um sich noch zu ärgern oder aufzuregen. Darüber hinaus hatte er sich dazu durchgerungen, seinen Zorn, der ihn vollends umzubringen drohte, zu vergessen. Harriet wusste immer, was er gerade dachte, und auch David antwortete oft laut auf unausgesprochene Fragen, die ihr im Kopf herumgingen. Manchmal schliefen sie noch miteinander, aber sie spürte – und wusste, ihm ging es ebenso –, dass es nur die bleichen Gespenster ihrer Jugend waren, die sich da umarmten und küssten.
Harriet war es, als hätten die Drangsale ihres Lebens ihr das Fleisch vom Leib gerissen, nicht das irdische, sondern jene metaphysische Substanz, die man nicht sah und von der man nichts ahnte, bis sie verbraucht war. Und David hatte vor lauter Arbeit den Teil seines Selbst verloren, der seiner Familie gehörte. Seine beruflichen Anstrengungen hatten sich ausgezahlt, er hatte die Firma gewechselt und war nun in einer weit besseren Stellung. Aber alle Ereignisse haben ihre eigene Logik. David war jetzt die Art Geschäftsmann, die er früher stets abgelehnt hatte. Sein Vater James brauchte die Familie nicht mehr zu unterstützen, er bezahlte nur noch für Luke. Die sympathische Offenheit und Zielstrebigkeit, die den jungen David ausgezeichnet hatten, waren einer fast schon überheblichen Selbstsicherheit gewichen. Hätte die junge Harriet diesen Mann erst jetzt kennengelernt, so hätte sie ihn für hartherzig gehalten. Aber das war er nicht. Die Härte, die sie in ihm fühlte, bedeutete Ausdauer. Er hatte gelernt, die Dinge durchzustehen.
Morgen, Samstag, würde David zu einem Kricket-Match zu Luke ins Internat fahren. Harriet besuchte Helen, die in der Schule eine Rolle in einem Theaterstück übernommen hatte. Dorothy hatte versprochen, übers Wochenende »das Haus zu hüten«. Jane kam nicht mit, denn sie wollte die Geburtstagsparty einer
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