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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Ben an die Reihe und kopierte Paul. Aber nach wenigen Minuten hatte er alles vergessen.
    Sie spielte mit Paul verschiedene Geschicklichkeitsspiele oder »Mensch ärgere dich nicht«, und Ben sah zu. Wenn Paul dann bei seiner Psychiaterfamilie war, ermunterte sie Ben zu einem Versuch. Aber er kam nie dahinter, worum es eigentlich ging.
    Dennoch, manche Filme sah er sich immer wieder an, ohne ihrer je müde zu werden. Sie hatten ein Videogerät gemietet. Ben liebte vor allem Musicals: »Die Trapp-Familie«, »West Side Story«, »Oklahoma!«, »Cats«.
    »Gleich singt sie wieder«, antwortete Ben etwa, wenn Harriet sich nach dem Fortgang der Handlung erkundigte.
    Oder: »Erst tanzen sie alle rundherum, und dann singt sie.« Oder: »Gleich tun sie ihr weh.« – »Sie ist weggelaufen. Nun geben sie eine Party.«
    Aber den eigentlichen Inhalt des Films konnte er ihr nicht erzählen.
    »Sing mir mal das Lied vor, Ben. Mir und Paul.«
    Aber er konnte es nicht. Er liebte die Melodie, doch alles, was er hervorbrachte, war ein raues, heiseres Gegröle.
    Harriet erwischte Paul dabei, dass er Ben reizte: Er bat ihn scheinheilig darum, ein Lied zu singen, und verhöhnte ihn dann. Harriet sah, wie in Bens Augen Wut aufblitzte, und befahl Paul, so etwas nie wieder zu tun.
    »Warum nicht?«, kreischte Paul. »Warum darf ich überhaupt nichts mehr? Immer nur Ben, Ben, Ben …« Er fuchtelte mit den Armen in Bens Richtung. Bens Augen funkelten gefährlich. Er duckte sich zum Sprung auf den Bruder …
    »Ben!«
, warnte Harriet.
    In solchen Momenten, wenn sie sich darum bemühte, ihm normale menschliche Dinge beizubringen, hatte sie oft das Gefühl, ihn damit nur weiter in unbekannte Seelenregionen zu treiben, wo ihm Erinnerungen kamen, wo er fernen Träumen nachhing. Aber wovon? Von den Zeiten seiner eigenen Art?
    Einmal, als sie wusste, dass er im Haus war, ihn aber nicht finden konnte, ging sie von Stockwerk zu Stockwerk und sah in alle Räume. Die erste Etage war noch bewohnt, von ihr und David, Ben und Paul, doch drei der Zimmer standen leer, auch wenn in ihnen frisch bezogene Betten bereitstanden. Die Zimmer im zweiten Stock waren sauber und leer. Der dritte Stock: Wie lang war es her, dass ausgelassenes Kinderlachen und Herumgetobe von hier aus durch die offenen Fenster in den Garten hinausgeschallt waren? Aber Ben war nirgends zu finden. Harriet stieg leise zum Dachboden hinauf. Die Tür stand offen. Von der schrägen Dachluke her fiel ein schräges Lichtquadrat auf den Holzboden, und da stand Ben und starrte ins trübe Sonnenlicht empor. Harriet konnte nicht erkennen, was er da suchte, was er dachte … Er hörte sie, und im nächsten Moment sah sie das Wesen, das von dem Leben, das er bei ihnen zu führen gezwungen war, immer unterdrückt wurde: Mit einem Sprung war Ben im Dunkel des Dachvorsprungs verschwunden. Harriet sah nichts mehr als den düsteren Raum. Irgendwo da hockte er und starrte sie an … Sie fühlte, wie sich ihre Haare sträubten und ein Frösteln sie überkam; ihr Instinkt regte sich in ihr, denn vom Verstand her fürchtete sie ihn natürlich nicht. Sie war starr vor Entsetzen.
    »Ben«, sagte sie sanft, obwohl ihre Stimme zitterte. »Ben …«, und sie legte in den Namen ihren ganzen menschlichen Anspruch auf ihn, der auf diesem wilden, gefährlichen Dachboden zurückgewichen war in eine weit entfernte Vergangenheit, die noch keine menschlichen Wesen gekannt hatte.
    Keine Antwort. Nichts.
    Ein Schatten wischte kurz über das verstaubte Oberlicht: ein Vogel, auf dem Flug von einer Baumkrone zur anderen.
    Harriet ging wieder hinunter, setzte sich einsam und frierend in die Küche und trank heißen Tee.
    Kurz bevor Ben auf die örtliche Hauptschule wechselte, die als einzige Schule für ihn infrage kam und die ihn nehmen musste, standen noch einmal Sommerferien an. Freunde und Verwandte hatten einander geschrieben, sich angerufen: »Diese armen Menschen … Wir müssen sie besuchen, wenigstens für eine Woche …« Damit war vor allem, wie Harriet wusste, der arme David gemeint, nur selten die arme Harriet … Sie war normalerweise die unverantwortliche Harriet, die egoistische Harriet, die verrückte Harriet.
    »Hätte ich Ben ermorden lassen sollen?«
, verteidigte sie sich wütend oft in Gedanken, niemals laut. Angesichts all dessen, wofür die Gesellschaft, der sie wie alle anderen auch angehörte, stand, woran man glaubte, war ihr keine andere Wahl geblieben, als Ben aus jener Anstalt

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