Das fünfte Kind. Roman
der kurze, stämmige Ben, dort der lange, spindeldürre Paul … Wenn Ben es wollte, konnte er Paul umbringen. Harriet dachte, Ben wollte Paul sicherlich nur Angst machen, aber Paul war wie von Sinnen, und Ben grinste rachsüchtig und triumphierend.
»Ben!«, kommandierte Harriet. »Ben,
kusch
!« Und noch zweimal, wie zu einem Hund: »
Kusch
, sage ich,
kusch
!«
Er drehte sich heftig zu ihr um und ließ die Hände sinken.
Sie legte stumm die Drohung in ihren Blick, die sie schon mehrmals mit Erfolg ausgesprochen hatte und mit der sie Macht über ihn gewann: die Erinnerungen an die Anstalt.
Er bleckte die Zähne und knurrte.
Paul kreischte, sein ganzes Entsetzen brach aus ihm heraus, und er rannte, stolpernd und rutschend, zur Treppe, nur um von diesem Grauen wegzukommen, das Ben für ihn darstellte.
»Wenn du das noch einmal tust …«, drohte Harriet.
Ben ging langsam an den großen Tisch und setzte sich.
Sie glaubte, dass er nachdachte.
»Wenn du das noch einmal tust, Ben …«
Er hob den Kopf und blickte seine Mutter an. Er erwog und berechnete etwas, so viel sah sie. Aber was? Diese steinernen, unmenschlichen Augen … Was sah er? Jedermann glaubte, dass er das Gleiche wie alle sah: eine menschliche Welt. Aber vielleicht war sein Nervensystem auf ganz andere Fakten und Daten eingestellt? Woher sollte man das wissen? Was also dachte er? Wie erlebte er sich selbst?
»Armer Ben«, murmelte er manchmal immer noch.
Harriet erzählte David nichts von dem neuen Zwischenfall. Er war sowieso am Rande seiner Belastbarkeit. Und was hätte sie auch sagen sollen? »Heute hat Ben versucht, Paul umzubringen!« Das lag weit jenseits aller Grenzen des Erträglichen oder Erlaubten. Außerdem glaubte Harriet nicht, dass Ben seinen Bruder wirklich hatte töten wollen. Er hatte nur wieder einmal gezeigt, wozu er fähig wäre, wenn …
Das sagte sie auch Paul. Ben hätte ihm natürlich nur Angst machen wollen. Sie hoffte, dass Paul ihr das abnahm.
Zwei Jahre bevor Ben die Schule verließ, in der er zwar nichts gelernt, aber wenigstens niemandem geschadet hatte, kam sein Motorradfreund John zu Harriet und sagte, sie müssten nun Abschied nehmen. Er hatte einen Platz in einer Berufsschule in Manchester zugeteilt bekommen. Er – und drei seiner Kumpel ebenfalls.
Ben stand daneben und hörte zu. Er wusste es schon, denn in »Betty’s Caff« war genügend davon geredet worden. Aber Ben hatte es nicht wirklich begriffen. Deshalb kam John extra noch einmal zu Harriet, um es in Bens Gegenwart zu wiederholen, damit er sich mit den Tatsachen abfand.
»Warum nehmt ihr mich nicht mit?«, fragte Ben.
»Weil es nicht geht, Kumpel. Aber wenn ich meinen Vater und meine Mutter besuche, komme ich auch bei dir vorbei.«
»Aber warum kann ich denn nicht mitfahren?«, beharrte Ben.
»Weil ich auch noch einmal zur Schule muss. Nicht hier. Weit weg. Manchester ist weit, weit weg.«
Ben erstarrte. Er nahm seine drohende Boxerhaltung ein: krummer Rücken, geballte Fäuste. Er knirschte mit den Zähnen, und seine Augen wurden tückisch.
»Ben«, sagte Harriet in ihrem warnenden Ton. »Ben, lass das.«
»Na, na, Hobbit«, begütigte John unsicher, aber freundlich. »Ich kann nichts daran ändern. Irgendwann muss jeder mal aus dem Haus. Bei mir ist es höchste Zeit.«
»Geht Barry auch weg? Rowland auch? Henry auch?«
»Ja, wir alle vier.«
Ben drehte sich plötzlich um und stürzte in den Garten hinaus, wo er auf einen Baumstamm lostrat und gellende Wutschreie ausstieß.
»Besser, er geht auf den Baum los als auf mich«, sagte John.
»Oder auf mich«, sagte Harriet.
»Tut mir wirklich leid«, sagte John. »Aber so ist es nun mal.«
»Ich weiß nicht, was wir ohne Sie angefangen hätten«, sagte Harriet.
Er nickte nur, denn er wusste, dass sie recht hatte. Und so verschwand John für immer aus ihrem Leben. Ben hatte, seit sie ihn damals aus der Anstalt befreit hatte, beinahe jeden Tag mit ihm verbracht.
Er trug sehr schwer an dem Verlust. Zuerst glaubte er nicht daran. Wenn Harriet ihn, und manchmal auch Paul, mit dem Auto von der Schule abholen kam, sah sie ihn schon von Weitem am Tor stehen und in die Richtung starren, aus der John immer so glorreich mit seinem Motorrad herangeprescht war. Widerstrebend ließ er sich von Harriet in den Wagen packen und rutschte dann auf dem Rücksitz so weit wie möglich von Paul weg, wenn der keinen Termin beim Psychiater hatte, und seine Blicke suchten die Straße nach Spuren seiner
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