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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Erwarten ließ Doktor Gilly plötzlich durchblicken, was sie wirklich dachte. Sie seufzte tief, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und blieb dann sekundenlang mit geschlossenen Augen sitzen, die Finger über den Lippen. Sie war eine gut aussehende, reife Frau, lebenserfahren und lebenstüchtig, aber in dieser winzigen Zeitspanne zeigte sich ihre unzulässige, unprofessionelle Ratlosigkeit, und sie blickte fast benommen irgendwohin in die Luft.
    Dann befahl sie sich, das, was Harriet als einen Moment der Wahrheit erkannt hatte, zu verleugnen. Sie ließ die Hände sinken, lächelte und fragte scherzhaft: »Und woher kommt er? Von einem anderen Stern? Aus dem fernen Weltall?«
    »Nein. Aber Sie haben ihn genau gesehen. Wie wissen wir, welche Arten von Menschen, Rassen meine ich, jedenfalls Geschöpfe, die wenig mit uns gemein haben, auf diesem Planeten schon gelebt haben? In der Vergangenheit. Was wissen wir von ihnen? Woher sollen wir wissen, ob solche Fabelwesen, Zwerge, Gnome, Trolle, nicht wirklich einmal hier gelebt haben? Ist das nicht der Grund dafür, dass wir uns immer noch Geschichten über sie erzählen? Dass sie wirklich einmal existiert haben … Nun ja, woher wissen wir, dass es nicht so ist?«
    »Sie glauben, Ben könnte ein genetischer Rückfall sein?«, fragte Doktor Gilly ernst. Es klang, als wäre sie bereit, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
    »Mir scheint es offensichtlich«, sagte Harriet.
    Wieder folgte ein Schweigen, und Doktor Gilly betrachtete ihre wohlgepflegten Hände. Dann blickte sie seufzend auf, begegnete Harriets Augen und fragte: »Wenn das so ist, was erwarten Sie dann eigentlich von mir?«
    »Nur, dass Sie es deutlich aussprechen«, sagte Harriet eindringlich. »Dass Sie es anerkennen. Ich ertrage nicht länger, dass keiner es wahrhaben will.«
    »Sehen Sie denn nicht, dass das meine Kompetenzen überschreiten würde? Wenn es so ist, wie Sie sagen? Soll ich Ihnen etwa einen Brief an den Zoo mitgeben, damit der Junge hinter Gitter kommt? Oder ihn an ein Versuchslabor weiterreichen?«
    »Oh Gott«, sagte Harriet. »Nein, natürlich nicht.«
    Schweigen.
    »Danke, Doktor Gilly«, sagte Harriet und stand auf, womit sie das Gespräch auf die herkömmliche Art beendete. »Würden Sie mir bitte ein wirklich starkes Sedativum verschreiben? Es gibt Stunden, in denen ich Ben nicht mehr kontrollieren kann, und ich brauche etwas, das mir hilft.«
    Die Ärztin schrieb.
    Harriet nahm das Rezept an sich. Sie dankte Doktor Gilly. Sie verabschiedete sich. An der Tür sah sie sich noch einmal um. Der Gesichtsausdruck der Ärztin war wie erwartet. Ihr starrer, düsterer Blick spiegelte wider, was die Frau empfand: Grauen vor dem Fremdartigen, Widerstand des Normalen gegen alles, was außerhalb der menschlichen Grenzen liegt. Grauen vor Harriet, die Ben geboren hatte.
    Harriet fand Ben allein im Wartezimmer vor, wo er sich in eine Ecke verkrochen hatte und ihr mit seinen steinernen Augen ohne einen Wimpernschlag entgegenstarrte. Er zitterte. Menschen in weißen Uniformen, in weißen Kitteln, Räume, die nach Chemikalien rochen … Harriet erkannte, dass sie, ohne es zu wollen, ihre Drohungen bekräftigt hatte: »Wenn du dich schlecht benimmst, dann …«
    Er war verschüchtert. An sie gedrückt, begann er zu weinen, aber nicht wie ein Kind bei der Mutter, sondern wie ein verängstigter Hund.
    Von nun an gab sie ihm allmorgendlich von dem Sedativum, das aber nicht viel Wirkung auf ihn hatte. Immerhin hoffte sie, dass es ihn einigermaßen ruhig halten würde, bis die Schule vorbei war, John ihn abholte und er mit auf dem Motorrad davondonnern konnte.
    So kamen sie durch Bens erstes Schuljahr. Das bedeutete, dass sie alle so tun konnten, als ginge es bei ihnen eigentlich nicht besonders ungewöhnlich zu. Ben war ganz einfach ein »schwieriges« Kind. Er lernte nichts, aber das taten viele andere Kinder auch nicht. Sie vertrödelten ihre Zeit in der Schule, und das war’s dann.
    Kurz vor den diesjährigen Weihnachtsferien schrieb Luke aus dem Internat, dass er gern zu seinen Großeltern fahren würde, James und Jessica befanden sich irgendwo an der südspanischen Küste. Helen fuhr zur Großmutter Molly nach Oxford.
    Dorothy, Harriets Mutter, kam zwar, aber nur für drei Tage. Dann nahm sie Jane mit zu Sarah: Jane liebte die kleine behinderte Amy abgöttisch.
    Ben verbrachte die ganze Ferienzeit mit John. Harriet und David (falls er verfügbar war; er arbeitete jetzt Tag und Nacht) widmeten

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