Das fünfte Kind. Roman
sich vorwiegend Paul, mit dem es allmählich fast noch schwieriger geworden war als mit Ben. Aber wenigstens litt Paul an einem »normalen« Kindheitstrauma und war auf natürliche Weise verstört, er war kein Fremdkörper.
Paul saß stundenlang vor dem Fernsehapparat. Er verkroch sich förmlich in den Flimmerkasten, zappelte herum, ohne sich auf irgendetwas zu konzentrieren, und aß und aß, nahm dabei aber nicht zu. Er schien aus einem unersättlichen Mund zu bestehen, der dauernd gefüttert werden wollte. Jede Faser von ihm schien nach irgendetwas zu verlangen. Aber wonach? Es half nichts, wenn seine Mutter ihn in die Arme nahm, er war zu unruhig, um sich ihr zu überlassen. Bei David war er gern, aber auch nie für lange. Nur das Fernsehen hatte eine magische Anziehungskraft auf ihn. Kriege und Aufstände, Anschläge und Geiselnahmen, Morde und Raubüberfälle und Entführungen … Die barbarischen achtziger Jahre waren auf dem Vormarsch, und Paul lag, alle viere von sich gestreckt, vor dem Apparat, oder er lief rastlos im Zimmer umher, aß und starrte auf den Schirm, das war seine Nahrung. So schien es wenigstens.
Das Bild des künftigen Familienlebens stand in seinen Hauptumrissen schon fest.
Luke fuhr von nun an über die Ferien immer zu seinem Großvater James, mit dem er »blendend auskam«. Auch mit seiner »Stiefgroßmutter« Jessica verstand er sich gut; er fand sie »echt witzig«. Desgleichen seine Tante Deborah, deren gescheiterte Eheversuche sich zu einem langen Fortsetzungsroman auswuchsen, der sich Luke wie ein Comic präsentierte. Luke blühte und gedieh mit den Reichen; und von Zeit zu Zeit schleppte James ihn förmlich zu einem Besuch bei seinen Eltern, denn dem gutmütigen Mann tat leid, was in jenem Unglückshaus alles passiert war, und er wusste, dass Harriet und David sich nach ihrem Ältesten sehnten. Ein paarmal besuchten sie Luke anlässlich eines Sportfests in seinem Internat, und Luke selbst kam gelegentlich in den Trimesterferien nach Hause.
Helen war am glücklichsten bei Molly und Frederick. Sie bewohnte das Zimmer, das ihr Vater einst als sein wahres Zuhause empfunden hatte, und war »Großvater« Fredericks Liebling. Auch Helen kam in den Trimesterferien manchmal kurz nach Hause.
Jane hatte Dorothy angebettelt, Harriet und David ins Gewissen zu reden, denn sie wollte nun am liebsten für immer bei Großmutter Dorothy und Tante Sarah leben, mit den drei gesunden Kindern und der armen, süßen Amy. Sie bekam, was sie wollte. Dorothy brachte Jane manchmal zu Besuch mit, und Harriet und David merkten, dass Dorothy dem Kind eingeschärft hatte, »nett« zu ihnen zu sein und Ben nie, unter keinen Umständen, zu kritisieren.
Paul blieb daheim. Er war jetzt viel mehr zu Hause als Ben.
David fragte Harriet: »Was sollen wir bloß mit Paul anfangen?«
»Was können wir schon machen?«
»Er gehört in Behandlung. Zu einem Psychiater …«
»Was soll das nützen!«
»Er lernt überhaupt nichts, er faulenzt nur herum. Er ist schlimmer als Ben! Ben ist nun mal von Natur aus so, wie er ist, was das auch sein mag, ich will es gar nicht so genau wissen. Aber Paul …«
»Und wer soll das bezahlen?«
»Ich.«
David übernahm nun, zu aller übrigen Arbeitslast, die Leitung technischer Fortbildungskurse an einer Abendhochschule und kam kaum noch nach Hause. Wenn er während der Woche einmal auftauchte, war es spätabends, und er fiel dann nur noch ins Bett und schlief wie ein Stein.
Paul bekam einen »Gesprächspartner«, wie die psychiatrische Behandlung beschönigend umschrieben wurde, zu dem er fast jeden Nachmittag nach der Schule ging. Es war ein Erfolg. Der Psychiater war ein ruhiger Mann in den Vierzigern, hatte eine eigene Familie und ein hübsches Haus. Paul blieb oft zum Abendessen dort und ging sogar hin, um mit den Doktorkindern zu spielen, wenn gar kein Gesprächstermin angesetzt worden war.
Manchmal blieb Harriet in ihrem Riesenhaus den ganzen Tag völlig allein, bis Paul so gegen sieben kam und sofort den Fernseher andrehte und dann gelegentlich auch Ben auftauchte, obwohl ihn der Bildschirm selten länger als ein paar Minuten zu interessieren schien. Harriet wusste nicht zu sagen, was es eigentlich war, das seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermochte.
Die beiden Jungen hassten einander.
Einmal kam Harriet gerade dazu, als Paul, in eine Küchenecke gedrängt, sich auf den Zehenspitzen hochreckte, um Bens Händen, die nach seiner Kehle griffen, zu entgehen. Hier
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