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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Schulfreundin nicht versäumen. Paul begleitete David, um seinen Bruder zu besuchen.
    Ben würde also mit seiner Großmutter, die ihn ein Jahr lang nicht gesehen hatte, allein bleiben.
    Harriet war nicht überrascht, als David sie fragte: »Meinst du, Dorothy merkt gleich, wie wenig Ben seinem Alter entspricht?«
    »Sollten wir sie etwa warnen?«
    »Nach fünf Minuten hat sie aber doch sowieso alles kapiert.«
    Stille. Harriet wusste, dass David am Einschlafen war. Er raffte sich noch einmal auf, um zu fragen: »Harriet, ist dir klar, dass Ben in einigen Jahren in die Pubertät kommen wird? Dass er ein Geschlechtsleben entwickeln wird?«
    »Weiß ich. Aber er ist nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt wie wir.«
    »Ob seine Vorfahren überhaupt so etwas wie eine Pubertät hatten?«
    »Woher sollen wir das wissen? Vielleicht waren sie nicht so geschlechtsbetont wie wir. Wer hat noch gesagt, wir seien alle
›oversexed‹
? Richtig, es war George Bernard Shaw.«
    »Wie dem auch sei, bei dem Gedanken, dass Ben einen Geschlechtstrieb entwickeln wird, graust es mir.«
    »Er hat jetzt schon lange niemanden mehr angegriffen.«
    Nach dem Wochenende sagte Dorothy zu Harriet: »Ob Ben sich wohl jemals gefragt hat, warum er so anders ist als wir?«
    »Wie sollen wir das wissen? Ich weiß überhaupt nie, was er denkt.«
    »Vielleicht glaubt er, dass es irgendwo noch mehr von seiner Art gibt.«
    »Vielleicht.«
    »Gebe Gott, dass sich darunter kein weibliches Exemplar findet!«
    »Bringt Ben dich etwa auf den Gedanken, dass … dass all die verschiedenen Arten, die jemals auf der Erde gelebt haben, noch irgendwo in uns drin sein müssen?«
    »Alle auf dem Sprung, wieder ans Tageslicht zu kommen! Aber möglicherweise bemerken wir es ganz einfach nicht, wenn sie es tatsächlich einmal tun«, sagte Dorothy.
    »Weil wir es nicht wahrhaben wollen«, sagte Harriet.
    »Ich bestimmt nicht«, sagte Dorothy, »nicht, nachdem ich Ben gesehen habe. Harriet, ist dir und David eigentlich klar, dass Ben kein Kind mehr ist? Wir behandeln ihn noch so, aber …«
    Die beiden Jahre, ehe Ben in die Hauptschule kam, waren schlimm für ihn. Er war einsam, aber kam ihm überhaupt zu Bewusstsein, dass es so ein Gefühl gab? Auch Harriet war sehr einsam, und sie wusste es …
    Wie Paul, wenn er da war, hatte Ben sich mittlerweile angewöhnt, sofort den Fernsehapparat einzuschalten, wenn er von der Schule nach Hause kam. Manchmal harrte er da von vier Uhr nachmittags bis neun oder zehn Uhr abends aus. Es schien ihm ganz egal zu sein, was er sah, und er zeigte keine Vorlieben. Er begriff nicht, dass manche Programme für Kinder und manche für Erwachsene waren.
    »Worum geht es in dem Film, Ben? Erzähl mir die Geschichte.«
    »Geschichte?« Er sprach das Wort mit unbeholfener Zunge nach und sah seiner Mutter ins Gesicht, um zu erraten, was sie von ihm wollte.
    »Wovon handelte der Film, den du gerade gesehen hast?«
    »Große Autos«, sagte er dann. »Ein Motorrad. Ein Mädchen hat geheult. Auto jagt den Mann.«
    Um zu sehen, ob Ben nicht von Paul lernen könnte, fragte sie Paul einmal. »Worum ging es in dem Film, den ihr eben gesehen habt?«
    »Um einen Bankraub natürlich«, sagte Paul, voller Verachtung für den dummen Ben, der den beiden zuhörte, während seine Augen zwischen seiner Mutter und seinem Bruder hin- und herwanderten. »Ein paar Ganoven haben einen unterirdischen Gang gegraben. Sie waren schon beinahe im Tresorraum, aber dann hat ihnen die Polizei eine Falle gestellt. Ein paar sind ins Gefängnis gekommen, aber die meisten sind entwischt. Zwei von ihnen hat die Polizei erschossen.«
    Ben hatte genau zugehört.
    »Nun erzähl du mir, worum es in dem Film ging, Ben.«
    »Ein Bankraub«, sagte Ben. Und dann wiederholte er, was Paul gesagt hatte, stockend, denn er suchte nach genau den Wörtern, die sein Bruder gebraucht hatte.
    »Der plappert mir ja nur alles nach«, sagte Paul verächtlich.
    Bens Augen flammten kurz auf und wurden wieder kalt wie Stein, als er sich, wie Harriet vermutete, an ihre Drohung erinnerte. »Ich darf ihm nicht an die Gurgel gehen«, dachte er wahrscheinlich, »sonst bringen sie mich wieder dorthin.« Was Paul dachte und fühlte, wusste Harriet ganz genau, aber bei Ben war sie stets auf Vermutungen angewiesen.
    Vielleicht konnte Ben trotzdem von Paul lernen, ohne dass einer von beiden es merkte?
    Harriet las beiden zusammen Geschichten vor und forderte Paul anschließend auf, den Inhalt nachzuerzählen. Dann kam

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