Das fünfte Kind. Roman
zurückzuholen. Aber indem sie ihn vor dem sicheren Tod bewahrte, hatte sie ihre Familie zerstört. Hatte ihrem eigenen Leben schweren Schaden zugefügt … David, Luke, Helen, Jane … Paul. Paul hatte es am schlimmsten getroffen.
Ihre Gedanken kreisten dauernd in diesen eingefahrenen Bahnen.
David sagte immer noch, sie hätte einfach nicht dort hinfahren sollen. Aber wie hätte sie es schaffen sollen, nicht zu fahren, sie, Harriet? Und wenn sie es nicht getan hätte, dann, so glaubte sie, hätte David es getan.
Ein Sündenbock. Sie war der Sündenbock. Harriet, die Vernichterin der Familie.
Aber eine andere Schicht ihrer Gedanken und Gefühle reichte noch tiefer. »Es ist ganz einfach eine Strafe«, sagte sie zu David.
»Wofür?«, fragte er, sofort abwehrbereit, weil da dieser Ton in ihrer Stimme war, den er hasste.
»Für unsere Anmaßung. Wir haben geglaubt, glücklich zu werden, nur weil wir es so wollten.«
»Unsinn«, sagte er. Diese Harriet machte ihn ärgerlich. »Es war der pure Zufall. Jeder hätte Ben bekommen können. Es war ein Zufalls-Gen, das ist alles.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte sie störrisch. »Wir wollten zu glücklich sein! Keiner ist es, jedenfalls kennen wir keinen, aber wir wollten es unbedingt. Und da hat es uns wie ein Donnerschlag getroffen.«
»Hör endlich auf, Harriet. Weißt du nicht, wohin das alles führt? Zu Pogromen und Foltern, zu Hexenverbrennungen und dem angeblichen Zorn der Götter!« Er wurde immer lauter.
»Und Sündenböcken«, sagte Harriet. »Vergiss die Sündenböcke nicht.«
»Rachsüchtige Götter, vor Jahrtausenden erfunden«, fuhr David hitzig fort. Sie sah, dass er tief aufgewühlt war. »Der ewig strafende, zürnende Gott, der keinen Ungehorsam duldet …«
»Aber wer waren
wir
denn, dass wir aus freien Stücken beschließen konnten, so oder so zu sein?«
»Wer? Wir! Harriet und David. Wir haben gemeinsam die Verantwortung für das übernommen, was wir taten und woran wir glaubten. Und dann haben wir Pech gehabt. Weiter nichts. Ebenso gut hätte alles genauso kommen können, wie wir es geplant hatten. Acht Kinder in einem großen Haus, und jeder so glücklich wie, na ja, wie irgend möglich.«
»Und wer hat dafür bezahlt? James. Und Dorothy, wenn auch auf eine andere Weise. Ich stelle nur fest, David, ich werfe
dir
nichts vor.«
Aber das war schon lange kein Punkt mehr, an dem David verletzlich war. Er erwiderte nur: »James und Jessica haben so viel Geld, dass sie auch das Dreifache hätten verschmerzen können. Außerdem haben sie es gern getan. Und was Dorothy betrifft: Wenn sie sich beklagt, immer ausgenutzt zu werden, muss man dagegenhalten, dass sie sofort Amys Kindermädchen geworden ist, nachdem sie uns satthatte.«
»Wir wollten immer besser sein als alle anderen. Und wir dachten, wir wären es.«
»Nein, das legst du dir jetzt nur so zurecht. Wir wollten nichts weiter als wir selbst sein.«
»Nichts weiter«, sagte Harriet leichthin, voller Bosheit. »Nichts weiter.«
»Ja. Lass das, Harriet, hör auf. Aber wenn du es nicht schaffst und wenn du dauernd darauf herumhacken musst, lass mich dabei aus dem Spiel. Ich lasse mich von dir nicht zurück ins Mittelalter schleppen.«
»Sind wir nicht schon längst wieder dort angelangt?«
Molly und Frederick kamen und brachten Helen mit. Beide hatten Harriet nie verziehen und würden es auch nie mehr tun, aber sie mussten auf ihre Enkelin Rücksicht nehmen. Helen war eine gute Schülerin, ein hübsches, selbstständiges Mädchen von sechzehn Jahren. Aber kühl und zurückhaltend.
James brachte Luke mit, der mittlerweile achtzehn war, ein reizender, zuverlässiger, ruhiger und standfester junger Mann. Er wollte Schiffbauer werden, wie sein Großvater. Er war ein guter Beobachter, wie sein Vater.
Dorothy kam mit der vierzehnjährigen Jane. »Keine Intelligenzbestie, aber umso besser für sie!«, wie Dorothy betonte. »Ich würde auch keine von diesen Prüfungen bestehen.« Das »… und seht, was aus mir geworden ist« blieb unausgesprochen. Dorothy bot immer noch allem und jedem die Stirn, einfach durch ihre Anwesenheit. Aber sie war schwächer geworden.
Sie war ziemlich abgemagert und saß meist untätig herum. Paul, der Elfjährige, benahm sich hysterisch, theatralisch und buhlte stets um Aufmerksamkeit. Er sprach viel von seiner neuen Schule, einer Tagesschule, die ihm verhasst war, und wollte wissen, warum er nicht in ein Internat durfte wie die anderen. David kam seinem
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