Das fünfte Kind. Roman
jeder seiner Wege gegangen und dass seine Mutter nur seinetwegen so vereinsamt war?
Ihre Gedanken liefen quälend im Kreis. »Hätte ich ihn sterben lassen, so wären wir alle, so viele Menschen, glücklich geworden, aber ich habe es einfach nicht fertiggebracht, und deshalb …«
Und was würde nun aus Ben werden? Längst kannte er die halb fertigen oder abbruchreifen Gebäude, die Keller, Höhlen und Verstecke der Großstädte, wo die Nichtsesshaften unterschlüpften, die keinen Platz im normalen bürgerlichen Leben fanden. Er
musste
sie kennen, denn wo sonst hätte er sich in den Tagen und Wochen aufhalten sollen, in denen er sich zu Hause nicht blicken ließ? Wenn er sich noch öfter unter die Massen mischte, sich mit diesen Elementen einließ, die ihr Vergnügen in Krawallen und Straßenkämpfen suchten, würden er und seine Freunde bei der Polizei schon bald aktenkundig werden. Ben war nicht der Typ, den man leicht übersah … Halt, wie kam sie darauf? Seit Ben geboren war, hatte
keine
Autoritätsperson ihn je richtig gesehen. Damals, als Harriet ihn auf dem Bildschirm am Rand einer Straßenschlacht entdeckte, hatte er seinen Jackenkragen hochgestellt und das Gesicht halb in einen Schal vergraben und wie ein kleiner Bruder, vielleicht von Derek, ausgesehen. Er wirkte wie ein stämmiger Schuljunge. Hatte er sich damals vorsätzlich vermummt? Hieß das, er wusste genau, wie er aussah? Wie also sah er sich selbst?
Würden andere Menschen es immer ablehnen, ihn richtig zu sehen, seine wahre Natur zu erkennen?
Jedenfalls würde und konnte es keine Amtsperson sein, die da die Ausnahme machte und dann genötigt sein würde, Verantwortung zu übernehmen. Kein Lehrer, kein Arzt, auch kein Spezialist war je imstande gewesen, klipp und klar zu sagen: »Das genau ist er.« Kein Kriminalist, kein Gerichtsarzt oder Sozialhelfer würde je mit dem Phänomen »Ben« klarkommen. Aber angenommen, eines Tages käme ein Amateurforscher daher, ein Anthropologe ungewohnter Art, und stieße zufällig auf Ben, sagen wir mit seinen Kumpanen auf der Straße oder in einem Gerichtssaal, und entdeckte die Wahrheit? Und bekundete seine Neugier … Was dann? Dürfte Ben auch jetzt noch der Wissenschaft geopfert werden? Was würden sie mit ihm machen? Ihn sezieren? Sich seine ungeschlachten Gliedmaßen einzeln vornehmen, seine Augen und seine Zunge, um herauszufinden, warum er so gaumig und unbeholfen sprach?
Wenn nichts dergleichen geschah – und nach Harriets bisherigen Erfahrungen war es wahrscheinlich, dass nichts geschah –, sah sie noch Schlimmeres für ihn voraus. Die Bande würde sich weiter mit Raub und Diebstahl durchbringen und früher oder später gestellt werden. Auch Ben. Er würde sich gegen den Zugriff der Polizei wehren, wild um sich schlagen und treten und seine unbeherrschte Wut hinausbrüllen, bis sie ihm eine Spritze verpassten, weil es nicht anders ging, und binnen Kurzem würde er wieder in dem Zustand sein, in dem Harriet ihn damals gefunden hatte. Wie eine gigantische Nacktschnecke, halb tot, käsig und schlapp in seiner Zwangsjacke.
Und wenn er sich nicht erwischen ließ? War er schlau genug? Seine Kumpane waren es nicht, jedenfalls nicht auf Dauer. Sie würden sich früher oder später einmal selbst durch ihre Aufregung und ihre Angebereien verraten.
Harriet saß still am Tisch und ließ den Lärm des Fernsehapparats und ihrer Stimmen über sich hinwegschwappen. Ab und zu blickte sie flüchtig auf Ben und sah dann rasch wieder weg, und sie fragte sich, wann sie einfach alle verschwinden würden, ohne zu wissen, dass es diesmal keine Rückkehr mehr gab. Sie würde weiter hier sitzen, vor dem sanften Schimmer des Familientischs, der einem ruhigen See glich, und auf sie warten. Aber sie würden nicht wiederkommen.
Warum sollten sie eigentlich in England bleiben? Sie konnten leicht in jeder beliebigen Metropole verschwinden, in der dortigen Unterwelt wegtauchen und sich nach Lust und Laune ausleben. Vielleicht würde sie, Harriet, bald in dem kleineren Haus, wo sie, allein, mit David wohnen würde, beim abendlichen Fernsehen in den neuesten Nachrichten aus Berlin, Madrid, Los Angeles oder Buenos Aires plötzlich Ben erblicken, wie er dastand, etwas abseits von der Menge, und mit seinen steinernen Trollaugen in die Kamera starrte oder in den Gesichtern ringsherum nach einem anderen Wesen seiner eigenen Art suchte.
Nachwort
Doris Lessings Roman
Das fünfte Kind
erschien 1988 im englischen Original unter
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