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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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keine Miene.
    »Ach ja, verkaufen Sie?«, sagte Derek, wohl mehr aus Höflichkeit als sonst etwas.
    Sie wartete tagelang, dass Ben darauf reagieren würde, aber er tat es nicht. Identifizierte er sich schon derart mit seiner Bande, dass er dieses Haus nicht mehr als sein Heim ansah?
    Als sie ihn einmal außer Hörweite der anderen erwischte, sagte sie: »Ben, für den Fall, dass du mich einmal brauchst und ich nicht mehr hier bin, gebe ich dir eine Adresse, unter der du mich jederzeit erreichen kannst.« Noch während sie das aussprach, spürte sie, wie ein unsichtbarer David sie ironisch und missbilligend betrachtete. »Schon gut«, sagte sie stumm zu ihm, »aber ich weiß, dass du dasselbe tun würdest, wenn ich es nicht übernähme … So sind wir nun einmal, und wir können unsere Natur nicht ändern, weder zum Besseren noch zum Schlechteren.«
    Ben nahm den Zettel, auf dem stand: »Harriet Lovatt, c/o Molly und Frederick Burke«, und darunter die Adresse in Oxford. Das zu schreiben hatte ihr ein gewisses boshaftes Vergnügen bereitet. Aber später fand sie den Zettel auf dem Boden seines Zimmers, vergessen oder achtlos fallen gelassen, und sie versuchte es nicht noch einmal.
    Es wurde Frühling, dann Sommer, und die jungen Leute kamen seltener ins Haus, blieben immer öfter tagelang weg. Derek hatte sich ein eigenes Motorrad gekauft. Wann immer Harriet nun etwas von Einbrüchen, Überfällen und Vergewaltigungen erfuhr, schrieb sie ihnen die Täterschaft zu, obwohl sie es für ungerecht hielt. Man konnte ihnen schließlich nicht alles zur Last legen! Daher sehnte sie sich danach, sie für immer loszuwerden und die Kraft für ein neues Leben zu gewinnen. Sie wollte dieses Unglückshaus hinter sich lassen, und damit alle Gedanken, die es heraufbeschwor.
    Aber sie tauchten immer noch auf, in unregelmäßigen Abständen. Als wären sie nie weg gewesen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wo sie sich so lange herumgetrieben hatten, kamen sie herein und versammelten sich lässig um den Fernseher, vier oder fünf Mann hoch, manchmal sogar zehn oder mehr. Den Kühlschrank ließen sie jetzt in Ruhe, es war ohnehin nicht viel drin. Dafür brachten sie Unmengen von Essbarem mit, zum Teil aus aller Herren Länder: Pizzas, Quiches, chinesische und indische Gerichte, Pita-Brot, gefüllt mit Salat, Tacos, Tortillas, Chili con Carne, Pasteten, Kuchen und Sandwiches. Waren das nicht alles ganz gewöhnliche, engstirnige Engländer, die nur aßen, was schon ihre Eltern gegessen hatten? Ihnen schien es völlig gleich zu sein, was sie da in sich hineinstopften, Hauptsache, es war viel, und sie konnten die Reste, Papier und Schachteln überall um sich herum verstreuen, ohne hinterher aufräumen oder irgendetwas sauber machen zu müssen.
    Harriet räumte und putzte hinter ihnen her und dachte: »Nicht mehr lange.«
    Sie saß allein am riesigen Küchentisch, während die Bande auf der anderen Seite der niedrigen Trennwand vor dem Fernseher herumlümmelte. Der Lärm aus dem Fernseher vermischte sich mit ihren lauten, gemeinen, bösen Stimmen, den Stimmen eines primitiven, fremden, unverständlichen, feindlichen Stamms.
    Die weite Fläche des Tisches tröstete sie. Als sie ihn gekauft hatten, war er nur ein ausrangierter Metzgerstisch gewesen, mit rauer, vielfach zerhackter Platte, aber sie hatten die Kerben weggehobelt, bis die saubere, cremefarbene Kernschicht des Holzes mit der schönen Maserung zum Vorschein kam. Sie und David hatten ihn zusammen eingewachst. Seit damals hatten Tausende von Händen, Fingern, Ärmeln und bloßen Unterarmen darübergestrichen, Wangen von Kindern, die im Schoß der Erwachsenen schlafend vornübergesunken waren, rundliche Füßchen der Kleinsten, die, von helfenden Armen gestützt, unter allgemeinem Applaus dort oben ihre ersten Schritte wagten – all das hatte die weite Platte, die aus einem einzigen Stück bestand und vor langer Zeit aus einer alten Rieseneiche geschnitten worden war, zwanzig Jahre lang weiter geglättet und poliert und ihr einen seidigen Schimmer verliehen, so glatt, dass die Finger darauf Schlittschuh fahren konnten. Von der Oberfläche tauchten Knoten und Wirbel ins Holz hinein, deren Muster Harriet bis ins Letzte vertraut waren. Diese Haut hatte auch ihre Narben. Hier war ein brauner Halbkreis, wo Dorothy einmal eine zu heiße Pfanne abgesetzt und, wütend auf sich selbst, gleich wieder hochgerissen hatte. Und dort war noch ein geschwungenes dunkles Mal, aber Harriet wusste

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