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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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nicht mehr, wie es entstanden war. Wenn man die Platte aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtete, zeigte sie winzige Dellen, wo die dreifüßigen Untersetzer gestanden hatten, um die schöne Oberfläche vor den heißen Töpfen und Schüsseln zu schützen.
    Als Harriet sich vornüberbeugte, sah sie sich selbst in der schimmernden Fläche, matt nur, aber es genügte ihr, um sich schleunigst zurückzulehnen. Sie sah aus wie David: alt. Kein Mensch würde glauben, dass sie erst fünfundvierzig war. Doch lag es nicht am natürlichen Ergrauen der Haare, dem Erschlaffen der Haut: Ihr war bereits zu viel von jener unsichtbaren Substanz entzogen worden, jener lebenserhaltenden Kraft, die jedermann als selbstverständlich hinnimmt und die einer schützenden Fettschicht gleicht, aber unstofflich ist.
    Zurückgelehnt, sodass sie ihr verschwommenes Spiegelbild nicht mehr sehen musste, dachte sie daran, wie dieser Tisch einst für Feste und Spiele hergerichtet worden war – für ein richtiges Familienleben. Sie rief sich die Bilder vor Augen, wie es vor zwanzig, fünfzehn, zwölf, zehn Jahren hier ausgesehen hatte, die einzelnen Akte des Lovatt-Dramas, erst nur David und sie selbst, tapfer und ahnungslos, mit seinen Eltern, mit Dorothy und ihren Schwestern … und dann wurden die Babys geboren und wuchsen zu Kindern heran … und wieder Babys … zwanzig Leute, auch dreißig, hatten sich um diese schimmernde Tischplatte gedrängt und darin gespiegelt, manchmal hatten sie noch weitere Tische herangerückt und das Ganze mit Planken und Böcken vergrößert … Harriet sah den Tisch in die Länge und Breite wachsen, und immer mehr Gesichter um ihn herum, unentwegt lächelnde Gesichter, denn dieser Traum konnte keine Kritik oder Uneinigkeit vertragen. Und die Babys … die Kinder … sie hörte ihr Lachen, ihre hellen Stimmen: Und dann schien sich der Glanz des Tisches zu verdunkeln, und da war Ben, der Fremdling, der Zerstörer. Harriet sah sich vorsichtig um, voller Furcht, mit ihren Gedanken in ihm Kräfte freizusetzen, die er ihrer Meinung nach besaß. Er hockte abseits von den Übrigen da drüben in seinem Sessel, er saß immer abseits. Und seine Augen wanderten, wie immer, beobachtend über die Gesichter der anderen. Kalte Augen? Sie hatte sie immer als kalt empfunden, aber was sahen sie? War er gedankenvoll? Man konnte sich vorstellen, dass er dachte, über alles, was er sah, Daten sammelte und ordnete, aber inneren Mustern folgend, die weder sie noch sonst jemand erraten konnte. Im Vergleich mit den rohen, unfertigen Angebern da drüben war er ein reifes Wesen. Fertig ausgewachsen. Vollständig. Harriet glaubte durch ihn hindurch, hinter ihm, eine Rasse zu sehen, die ihren Höhepunkt viele Jahrtausende vor dem Auftauchen der jetzigen Menschheit erreicht hatte, was immer dieser Begriff »Mensch« auch bedeuten mochte. Hatten Bens Urahnen in unterirdischen Höhlen die Eiszeit überlebt, sich von Fischen und anderem Getier aus dunklen Unterweltflüssen ernährt, sich vielleicht auch in den bitterkalten Schnee hinaufgewagt, um einen Bären oder einen Vogel zu erlegen oder sogar einen ihrer (Harriets) frühesten Vorfahren? Hatten Bens Stammväter vielleicht schon die Urahninnen der Menschheit vergewaltigt? Waren so neue Rassen entstanden, die sich mehrten und wieder verschwanden, aber eine genetische Saat im menschlichen Erbgut hinterließen, die hier und da wiederauftauchte, wie es bei Ben passiert war? (Und womöglich kämpften Bens Gene schon in einem neuen Fötus ums Geborenwerden?)
    Spürte er, dass sie ihn ansah, wie es ein Mensch spüren würde? Er sah sich manchmal nach ihr um, wenn sie ihn beobachtete, nicht oft, aber es kam vor, dass ihre Augen sich trafen. Sie legte dann all jene Spekulationen in ihren Blick, ihre bohrenden Fragen, ihr leidenschaftliches Bedürfnis, mehr von ihm zu wissen, den sie schließlich acht Monate lang in ihrem Leib getragen und zur Welt gebracht hatte, obwohl er sie dabei fast umgebracht hatte. Aber er hatte keinen Sinn für ihre Fragen. Nach wenigen Sekunden sah er gleichmütig wieder weg und heftete seine Augen auf die Gesichter seiner Kumpane, seiner Gefolgschaft.
    Und was sah er da?
    Dachte er noch je daran, wie sie, seine Mutter – aber was galt ihm das? –, ihn in jener Anstalt aufgesucht und wieder nach Hause geholt hatte? Ihn, die jammervolle, halb tote Kreatur in der Zwangsjacke? Wusste er, dass sich das Haus nur wegen dieser Rettungsaktion so rasch geleert hatte, dass

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