Das fünfte Zeichen
beide Fahrstühle im Erdgeschoss bereitstanden. Dann konzentrierte er sich wieder auf den Artikel über die Frau, die am helllichten Tag verschwunden und noch immer nicht wieder aufgetaucht war. Der Journalist, Roger Gjendem, zitierte Dezer natsleiter Bjarne Møller, der den Fund eines Damenschuhs unter einem Auto vor ihrer Wohnung bestätigt hatte. Dies untermau e re den Verdacht einer Straftat, was jedoch noch nicht erwiesen sei.
Harry blätterte die Zeitung auf dem Weg zu den Postfächern durch. Er fischte die Berichte der letzten beiden Tage über die Suche nach Lisbeth Barli aus seinem Fach. Auf dem Anrufb e antworter im Büro waren fünf Nachrichten. Bis auf eine waren alle von Willy Barli. Harry spulte sich durch Barlis beinahe gleich lautende Nachrichten: Sie müssten mehr Leute einsetzen, er kenne eine Frau mit seherischen Fähigkeiten, und er wolle an die Öffentlichkeit gehen und eine hohe Belohnung für jeden aussetzen, der helfe, Lisbeth zu finden.
Bei der letzten Nachricht hörte Harry lediglich jemanden atmen.
Er spulte zurück und hörte sich die Aufzeichnung noch einmal an.
Und noch einmal.
Es war unmöglich herauszuhören, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Und noch weniger, ob es Rakel sein konnte. Laut Display war der Anruf um 22.10 Uhr aufgezeichnet worden von » unbekannt «. Das Gleiche wurde angezeigt, wenn Rakel von ihrem Telefon im Holmenkollvei anrief. Aber warum hatte sie dann nicht versucht, ihn zu Hause oder auf dem Handy zu erreichen?
Harry überflog die Berichte. Nichts. Er las sie ein zweites Mal. Noch immer nichts. Dann versuchte er es erneut, so unvoreing e nommen wie möglich.
Als er fertig war, warf er einen Blick auf die Uhr. Zeit für einen weiteren Gang zu den Postfächern. Er griff sich den Bericht eines Fahnders und legte einen an Bjarne Møller adressierten braunen Umschlag ins entsprechende Postfach.
Der Bericht des Fahnders ließ sich in einem Wort zusamme n fassen: nichts.
Harry spulte den Anrufbeantworter zurück, drückte auf Play und drehte die Lautstärke hoch. Er schloss die Augen und lehnte sich zurück, versuchte, sich an ihren Atem zu erinnern. Ihren Atem zu spüren.
» Ärgerlich, wenn sie sich nicht zu erkennen geben, oder? «
Nicht die Worte, sondern die Stimme machte, dass sich Harry die Nackenhaare aufstellten. Langsam drehte er den Stuhl um, der vor Schreck aufschrie.
Ein lächelnder Tom Waaler stand im Türrahmen. Er aß einen Apfel und streckte ihm eine offene Tüte entgegen: » Willst du einen? Aus Australien. Die schmecken himmlisch. «
Harry schüttelte den Kopf, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
» Darf ich reinkommen? «, fragte Waaler.
Als Harry nicht antwortete, trat er ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Er ging um den Tisch herum, setzte sich auf den anderen Bürostuhl und biss genüsslich in den roten Apfel.
» Ist dir je aufgefallen, dass wir beide eigentlich immer die Ersten sind, die zur Arbeit kommen, Harry? Merkwürdig, nicht? Dabei sind wir auch die Letzten, die gehen. «
» Du sitzt auf Ellens Stuhl «, sagte Harry.
Waaler tätschelte die Armlehne. » Wir müssen mal miteinander reden, Harry. «
» Dann red schon «, sagte Harry.
Waaler hielt den Apfel in das Licht der Deckenlampe und kniff ein Auge zu. » So ein Büro ohne Fenster ist doch traurig, oder? «
Harry antwortete nicht.
» Es kursieren Gerüchte, dass du aufhören willst «, sagte Wa a ler.
» Gerüchte? «
» Tja, Gerücht ist vielleicht übertrieben. Ich habe meine Que l len, um es mal so zu sagen. Du bist sicher längst auf der Suche nach anderen Möglichkeiten? Wach-und Schließgesellschaften? Versicherungen? Oder Inkasso? Für einen Kommissar mit juristischen Vorkenntnissen gibt es viel Verwendung. «
Weiße, starke Zähne senkten sich ins Fruchtfleisch.
» Vielleicht nicht so viele in Anbetracht einer Akte, in der von Trunksucht, unentschuldigtem Fehlen, überschrittenen Komp e tenzen, Befehlsverweigerung und Illoyalität gegenüber dem Arbeitgeber die Rede ist. «
Kiefermuskeln malmten und mahlten.
» Aber «, sagte Waaler, » vielleicht ist das nicht weiter schlimm. Schließlich stellt nichts davon für dich eine echte Herausford e rung dar. Nicht für einen Mann, der bereits Hauptkommissar war und als einer der Besten seines Fachs gilt. Außerdem bezahlen die nicht sonderlich gut. Und darauf kommt es letztendlich an, oder? Seine Leistung vergütet zu bekommen. Um Essen und Miete bezahlen zu können. Genug für ein
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