Das fünfte Zeichen
dass er in seinem früheren Leben sehr viele Frauen gekannt hatte. Er pflegte zu sagen, dass sei gew e sen, weil er so verzweifelt nach ihr gesucht habe. Er habe jede Frau wieder fallen gelassen, sobald er begriffen habe, dass sie nicht die Richtige gewesen sei, um dann seine rastlose Suche wieder aufzunehmen. Bis sie sich an einem schönen Herbsttag vor zwei Jahren in der Bar des Grand Hotel Europa auf der Vacl á vské n á mest í getroffen hatten.
Es war die schönste Form von Promiskuität, von der sie jemals gehört hatte.
Schöner als ihre, bei der es stets um Geld gegangen war.
» Was machst du eigentlich in Oslo? «
» Geschäfte «, sagte er.
» Warum willst du mir nicht erzählen, was genau du da machst? «
» Weil wir einander lieben. «
Er zog leise die Tür hinter sich zu, und sie hörte seine Schritte auf der Treppe.
Allein. Sie schloss die Augen und hoffte, sein Geruch würde so lange im Bettzeug hängen bleiben, bis er wieder da war. Sie legte eine Hand auf die Halskette. Sie hatte sie nicht ein einziges Mal abgenommen, seit er sie ihr geschenkt hatte, nicht einmal beim Baden. Sie fuhr mit den Fingern über den Anhänger und dachte an seinen Koffer. An das weiße, gestärkte Beffchen, das sie neben den Strümpfen hatte liegen sehen. Warum hatte sie ihn nicht danach gefragt? Vielleicht weil sie fühlte, dass er der Meinung war, sie frage ohnehin schon zu viel? Sie durfte ihn nicht verärgern.
Sie seufzte und blickte kurz auf die Uhr. Der Tag war leer. Ein Termin beim Arzt um zwei Uhr nachmittags, das war alles. Sie begann, die Sekunden zu zählen, während ihre Finger wieder und wieder über den Anhänger glitten, einen rötlichen Diama n ten in der Form eines fünfzackigen Sterns.
A uf der Titelseite der VG prangte die Schlagzeile, dass ein nicht namentlich genannter Fernsehpromi ein » kurzes, aber heftiges « Verhältnis mit Camilla Loen gehabt habe. Dazu hatten sie ein körniges Urlaubsfoto von Camilla in einem winzigen Bikini aufgetrieben. Offenbar, um die Andeutungen im Haupttext zu unterstreichen, nämlich worum es bei dieser Beziehung haup t sächlich gegangen war.
In der Zeitung Dagbladet vom gleichen Tag war ein Interview mit Toya Harang, der Schwester von Lisbeth Barli, unter der Schlagzeile » Immer abgehauen! « abgedruckt. Al s m öglichen Grund für das unerklärliche Verschwinden wurde das kindische Verhalten der kleinen Schwester zur Sprache gebracht. Zitat: » Sie ist ja auch bei Spinning Wheel abgehauen, also warum nicht jetzt? «
Für das Foto hatte sie sich vor dem Bandbus mit Cowboyhut in Positur gestellt. Sie lächelte. Harry nahm an, dass sie es später bereut hatte.
» Ein Bier. « Mit diesen Worten ließ er sich auf den Barhocker im Underwater fallen und schnappte sich die VG. Dort stand, dass das Springsteen-Konzert im Valle-Hovin-Stadion ausve r kauft war. In Ordnung. Harry hasste Großveranstaltungen. Wie anders es gewesen war, als er und Øystein im Alter von fün f zehn Jahren mit von Øystein gefälschten Springsteen-Karten zur Drammenshalle getrampt waren. Damals standen sie im Zenit ihres Lebens, Springsteen, Øystein und er selbst.
Harry schob die Zeitung weg und schlug seine eigene Ausgabe des Dagbladet mit dem Bild von Lisbeths Schwester auf. Die Ähnlichkeit der beiden war verblüffend. Er hatte sie in Trond heim angerufen, doch sie hatte ihm nichts sagen können. Oder genauer gesagt, nichts Wichtiges. Dass das Gespräch trotzdem zwanzig Minuten gedauert hatte, war nicht sein Fehler gewesen. Sie hatte ihm erklärt, ihr Name werde auf der hinteren Silbe betont: Toy-a. Und sie sei nicht nach der Schwester von Michael Jackson, LaToya, benannt worden, bei deren Name die Bet o nung ja auf der ersten Silbe liege.
Es waren vier Tage vergangen, seit Lisbeth verschwunden war, und sie waren bei dem Fall in einer Sackgasse angelangt.
Das Gleiche galt für den Fall » Camilla Loen «. Sogar Beate war frustriert. Das ganze Wochenende hatte sie der urlaubsd e zimierten Truppe von der Spurensicherung geholfen. Ein nettes Mädchen, diese Beate. Schade, dass sich so etwas nicht bezahlt machte.
Da Camilla ohne Zweifel eine sozial aktive Person war , war es ihnen gelungen, die meisten ihrer Bewegungen in der Woche vor ihrer Ermordung zu rekonstruieren, doch die Hinweise hatten zu nichts geführt.
Eigentlich hatte Harry vorgehabt, Beate von Waaler zu erzä h len. Wie er bei ihm im Büro gewesen war und mehr oder weniger direkt vorgeschlagen hatte, ihm seine
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