Das fünfte Zeichen
nach dem Krieg hatten sie gedroht, ihr das Kind wegzunehmen, ihr Ein und Alles. Die Furcht steckte ihr noch immer in den Knochen.
Olaug zwinkerte im diesigen Licht der Sonne. Sie war müde, welch Wunder. Den ganzen Tag über hatte die Sonne ihr Bestes gegeben, um die Blumen auf der Fensterbank auszudörren. Olaug lächelte. Mein Gott, wie jung sie gewesen war, niemand war jemals so jung gewesen. Sehnte sie sich danach zurück? Wohl nicht. Aber sie sehnte sich nach Gesellschaft, nach Leben, nach Gedränge. Sie hatte nie verstanden, was die Menschen meinten, wenn sie sagten, alte Menschen seien einsam, aber jetzt …
Es war weniger das Alleinsein als das Gefühl, für niemanden mehr wichtig zu sein. Sie war es zutiefst leid, morgens aufzuw a chen und zu wissen, dass sie den ganzen Tag über im Bett bleiben konnte, ohne dass es jemandem auffiele.
Deshalb hatte sie beschlossen, ein Zimmer unterzuvermieten. An ein aufgewecktes junges Mädchen aus der Gegend von Trondheim.
Ina war heute nur ein paar Jahre älter als Olaug damals, als sie in die Stadt gezogen war. Ein merkwürdiger Gedanke, dass Ina jetzt in demselben Dienstmädchenzimmer wohnte und sich abends bestimmt auch aus dem Lärm der Stadt wegsehnte an einen kleinen Ort im Norden des Landes.
Obwohl, vielleicht irrte sie auch. Ina hatte einen Verehrer gefunden. Olaug hatte ihn noch nicht gesehen, geschweige denn mit ihm geredet. Doch von ihrem Schlafzimmer aus hatte sie seine Schritte auf der Außentreppe hören können, wo Ina ihren eigenen Eingang hatte. Im Gegensatz zu Olaugs Zeit als Dienstmädchen konnte niemand Ina verbieten, Herrenbesuch in ihrem Zimmer zu empfangen. Nicht, dass sie das bedauerte, Olaug hoffte nur, dass niemand ihr Ina wegnahm. Sie war so etwas wie eine enge Freundin geworden. Oder vielleicht die Tochter, die sie niemals gehabt hatte.
Aber Olaug wusste auch, dass in der Beziehung zwischen einer alten Frau und einem jungen Mädchen wie Ina immer die Junge die Freundschaft schenkt und die Alte sie empfängt. Deshalb gab sie Acht, sich nicht aufzudrängen. Ina war stets freundlich zu ihr, doch manchmal dachte Olaug, es könnte mit der niedrigen Miete zu tun haben.
Es war so etwas wie ein festes Ritual geworden, dass Olaug abends gegen sieben Uhr Tee kochte und, ein Tablett mit Knabbersachen in der Hand, bei Ina anklopfte. Olaug zog es vor, dort zu sitzen. Seltsamerweise war das Mädchenzimmer noch immer der Ort, an dem sie sich am meisten zu Hause fühlte. Sie sprachen über alles Mögliche. Ina interessierte sich ganz besonders für den Krieg und für das, was in der Villa Valle geschehen war.
Und Olaug erzählte. Darüber, wie sehr sich Ernst und Randi Schwabe geliebt hatten. Dass sie stundenlang im Wohnzimmer sitzen und einfach nur miteinander reden konnten, während sie einander sanft berührten, dem anderen die Haare aus dem Gesicht strichen oder einander de n K opf auf die Schulter legten. Es kam vor, dass Olaug sie heimlich aus der Küche beobachtete. Einen Blick auf Ernst Schwabes schlanke Gestalt warf, sein schwarzes, dichtes Haar, die hohe Stirn und diese Augen, deren Ausdruck so rasch zwischen Spaß und Ernst wechseln konnte. Zwischen Wut und Lachen. Zwischen Selbstsicherheit bei den großen Dingen des Lebens und jungenhafter Verwirrung gegenüber alltäglichen, trivialen Sachen. Doch am meisten interessierte sie sich für Randi Schwabe mit ihrem leuchtend roten Haar, dem schlanken, weißen Hals und den klaren Augen mit der hellblauen Iris, umrahmt von einem dunkelblauen Rand. Es war das schönste Augenpaar, das Olaug jemals gesehen hatte.
Olaugs Gefühl nach waren diese beiden Geistesverwandte, wie füreinander geschaffen. Nichts und niemand würde sie trennen können. Doch es kam auch vor, berichtete sie Ina, dass die gute Stimmung während eines Festes in der Villa Valle nach dem Weggang der Gäste in heftigen Streit umschlug.
Es war nach einem solchen Streit gewesen, dass Ernst Schw a be an ihre Tür geklopft hatte und hereingekommen war. Olaug lag längst im Bett. Ohne das Licht anzuschalten, hatte er sich auf ihre Bettkante gesetzt und erzählt, seine Frau habe voller Wut das Haus verlassen, um die Nacht in einem Hotel zu verbringen. Sein Atem verriet, dass er getrunken hatte. Aber Olaug war jung gewesen. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, wenn ein zwanzig Jahre älterer Mann, den sie respektierte und bewunde r te, ja, in den sie vielleicht sogar heimlich verliebt war, sie bat, ihr Nachthemd auszuziehen, damit
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