Das fünfte Zeichen
er sie nackt sah.
Er hatte sie am ersten Abend noch nicht berührt, sondern sie nur betrachtet, ihr über die Wange gestrichen und gesagt, wie schön sie sei, schöner, als sie es jemals ahnen werde. Dann war er aufgestanden, und als er ging, schien es ihr, als hätte er am liebsten geweint.
Olaug schloss die Balkontür und stand auf. Es war bald sieben. Sie sah zur Tür an der Hintertreppe und bemerkt e e in paar saubere Männerschuhe auf der Fußmatte vor Inas Tür. Sie hatte wohl Besuch. Olaug setzte sich aufs Bett und lauschte.
Gegen acht Uhr ging eine Tür. Sie hörte, dass sich jemand Schuhe anzog und über die Treppe nach unten verschwand. Doch da war noch ein anderer Laut, ein raschelndes Kratzen wie von Hundepfoten. Sie begab sich in die Küche und setzte Teewasser auf.
Sie war verwundert, als sie ein paar Minuten später an Inas Tür klopfte und diese nicht antwortete. Insbesondere weil sie drinnen leise Musik hörte.
Olaug klopfte noch einmal an. Keine Reaktion.
» Ina? « Olaug drückte gegen die Tür. Sie ging auf. Das Erste, was ihr auffiel, war die stickige Luft. Das Fenster war geschlo s sen, und die Gardinen waren zugezogen, so dass es beinahe dunkel war.
» Ina? «
Keine Reaktion. Vielleicht schlief sie. Olaug trat über die Türschwelle und schaute hinter die Tür, wo das Bett stand. Leer. Seltsam. Die alten Augen hatten sich jetzt an das Dunkel gewöhnt, und Olaug konnte Inas Körper genau erkennen. Sie saß im Schaukelstuhl am Fenster und schien tatsächlich zu schlafen. Die Augen waren geschlossen und ihr Kopf hing ein wenig zur Seite. Olaug hätte nicht zu sagen gewusst, wo das leise Summen der Musik herkam.
Sie ging zum Stuhl. » Ina? «
Ihre Untermieterin reagierte noch immer nicht. Olaug hielt das Tablett mit einer Hand, während sie die andere vorsichtig auf die Wange des jungen Mädchens legte.
Es gab einen dumpfen Knall, als die Teekanne und gleich darauf zwei Tassen, eine silberne Zuckerschale mit dem deutschen Reichsadler, ein Teller und sechs Maryland-Cookies auf den weichen Teppich fielen.
E xakt in dem Augenblick, in dem Olaugs Teekanne –genauer gesagt, die Teekanne der Familie Schwabe –aufschlug , hob Ståle Aune die seine an –genauer gesagt, die der Osloer Polizeibehörde.
Bjarne Møller studierte den geziert abgespreizten kleinen Finger des beleibten Psychologen und fragte sich insgeheim, wie viel davon bewusstes Rollenspiel war und wie viel bloß ein abgespreizter Finger.
Møller hatte darum gebeten, in seinem Büro über den Stand der Dinge informiert zu werden, und hatte außer Aune die leitenden Ermittler, also Tom Waaler, Harry Hole und Beate Lønn, einbestellt.
Sie alle sahen müde aus. Vielleicht deshalb, weil die mit der Entdeckung des falschen Fahrradkuriers aufkeimende Hoffnung bereits wieder einen Dämpfer erfahren hatte.
Tom Waaler hatte gerade die Fahndungsergebnisse vorgestellt, die sie nach den Meldungen in Funk und Fernsehen erhalten hatten. Vierundzwanzig Hinweise waren eingegangen, dreizehn stammten von den ewigen Anrufern, die sich stets meldeten, ob sie nun etwas gesehen hatten oder nicht. Von den verbleibenden elf bezogen sich sieben auf echte Fahrradkuriere mit echten Aufträgen. Vier bestätigten ihnen lediglich das, was sie schon wussten: Am Montag gegen siebzehn Uhr hatte sich ein Fah r radkurier in der Nähe des Carl Berners Plass aufgehalten. Das Neue war, dass er beobachtet worden war, wie er den Tron d heimsvei hinunterradelte.
Den einzigen interessanten Hinweis hatte ein Taxifahrer beigetragen, der in der Nähe der Kunst-und Handwerkerschule einen Fahrradfahrer mit Helm, Brille und gelbem Hemd den Ullevålsvei hatte hochkommen sehen, und das etwa zu der Zeit, als Camilla Loen getötet worden war. Keiner der Kurierfirmen lag ein Auftrag vor, für den jemand zu diesem Zeitpunkt den Ullevålsvei hätte hochfahren müssen. Doch dann hatte sich ein Kurier von Førstemann gemeldet und beschämt eingestanden, einen Abstecher über den Ullevålsvei gemacht zu haben, um irgendwo am St. Hanshaugen ein Bier zu trinken. » Mit anderen Worten, der Fahndungsaufruf hat uns nichts gebracht? «, fragte Møller.
» Es ist noch zu früh, das zu beurteilen «, sagte Waaler.
Møller nickte, doch seinem Gesichtsausdruck nach war er nicht gerade begeistert. Vielleicht mit Ausnahme von Aune war allen Anwesenden nur zu bewusst, dass die erste Reaktion nach einem Mord die wichtigste war. Menschen vergaßen schnell.
» Was sagt unsere unterbesetzte
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