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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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schimpfte eher mit meiner Mutter, als dass sie sich über die Männer beschwerte.
    Im Gegensatz zu jenen Männern, die sich das Video ansehen, waren die Männer, die sich die Hälse verrenkten, wenn sie sich bückte und dabei einen Blick auf ihren Hintern gewährte, meiner Mutter nicht unbekannt. Es waren die Väter ihrer Freundinnen sowie deren Söhne, die meisten davon Bauern.
    Wie meine Mutter da auf den Holzbalken stand, blickte sie in die Gesichter von Bekannten, Nachbarn, der eine oder andere ein guter Freund der Familie. Daran muss man denken, wenn man sich vorstellt, wie sie sich im nächsten Augenblick das T-Shirt hochzieht, unter dem sie keinen BH trägt. Die Männer müssen sich die Augen gerieben und geglaubt haben, einer sommerlichen Hitzeerscheinung zum Opfer zu fallen. Es ist mehr als nur eine Provokation oder eine pubertäre Geste. Es ist einer jener seltenen Augenblicke, in dem man Souveränität über seine Existenz erlangt, indem man die Vorurteile der anderen, diese Existenz betreffend, bestätigt und sie dabei in der Überhöhung gleichzeitig ad absurdum führt. Meine Mutter galt im Dorf als Flittchen. Die Frauen machten sie schlecht, weil ihre Männer sie haben wollten. Die Männer redeten schlecht von ihr, weil sie sie haben wollten, aber nicht bekamen. Die Anzahl an Liebhabern, die ihr nachgesagt wurden, war umso beachtlicher, als sie zu diesem Zeitpunkt noch Jungfrau war. Es hätte ihr nichts geholfen, die Klosterschule zu besuchen: Zweifellos hätten bald Erzählungen von Exzessen mit anderen Klosterschülerinnen die Runde gemacht. In dem Augenblick, da sie ihre Brüste entblößte, machte sie aus einer Niederlage einen Triumph. Denn sie beließ es nicht dabei. Sonst wäre sie nicht viel mehr gewesen als ein Pin-up aus Fleisch und Blut, eine lebensgroße Verkörperung jenes mit grellen Farben und billigen Effekten komponierten Bildes, das die Gerüchte von ihr zeichneten. Stattdessen erhob sie die Stimme – ein Akt, der einem Menschen ihres Geschlechts, ihres Alters und ihrer Herkunft im Grunde gar nicht zustand – und rief zu den Männern hinüber: »Ich zeig’s euch nur einmal, also schaut’s nur gut hin! Das ist das, worauf ihr alle scharf seid, und was ihr doch nie bekommen werdet, ihr geilen Böcke!« Dann erst streifte sie sich das T-Shirt wieder über und machte sich an ihre Arbeit, als wäre nichts geschehen. Die Männer saßen eine Weile da wie verdattert. Dann hob ein lächerlich rechtschaffenes Gezeter an, das die Schamlosigkeit meiner Mutter zum Gegenstand hatte und die Unerhörtheit ihres Benehmens.
    Auf den ersten Blick ist das Verhalten meiner Mutter eine Obszönität. Auf den zweiten ein Triumph. Auf den dritten Blick – durch die Linse der Zeit, die unaufhaltsam durch das Stundenglas eines Lebens vom oberen in den unteren Behälter rieselt – ist es für mich ein zweischneidiger Triumph. Die Macht zu verspüren, die von der Schönheit des eigenen Körpers ausgeht, ist erregend. Es versetzt sowohl den Körper als auch die Gedanken anderer, diesen Körper betreffend, in Schwingungen. Gleichzeitig verführt es einen dazu, sich in derselben Weise wahrzunehmen, in der andere es tun. Der Blick auf sich selbst beginnt sich nach den Maßgaben jenes Blicks zu formen, den die anderen auf einen werfen. Wenn meine Mutter sich einer Tatsache früh bewusst war, dann ihrer Schönheit und der Wirkung, die sie auf andere hatte. Was sie nicht wirklich überblicken konnte, war die kurze Zeit, die Triumphen dieser Art beschieden ist, und die Flüchtigkeit jenes Glücks, das sie verheißen.
    Die Schönheit meiner jungen Mutter bewegt sogar mich – als Sohn, aber auch als Mann. Wäre ich damals einer jener Männer im Gastgarten des Wirtshauses gewesen, ich hätte wahrscheinlich dasselbe Verlangen empfunden wie sie. Auf den paar Schwarzweißfotos, die es aus jener Zeit gibt, brennt der Körper meiner Mutter beinah ein Loch ins Fotopapier, während um sie herum alles dunkel zu sein scheint, Menschen, Tiere, Gegenstände, das Gras, der Himmel siechen in Farben, die von Blassgrau bis Nachtschwarz reichen. Die Bauern bewegten sich um sie herum nicht anders als Metallspäne um einen Magneten: Ihr Haar ist eine Stichflamme und lässt die Männer an Marilyn Monroe oder Jayne Mansfield denken. Ihre Augen: als blickte man auf den Grund eines Sees. Ihr Arme, ihre Beine, ihr Po sind zart und flüchtig wie eine Kohleskizze – etwas, das jemand, der grob mit seinem Körper darüber malt, in wenigen

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