Das fuenfunddreißigste Jahr
dient. Sie war mit fünfzehn, sechzehn vielmehr selbst eines jener Mädchen, über das im Dorf, in dem sie ebenso aufgewachsen ist wie ich, hergezogen wurde. Das man beleidigte. Vor dem man ausspuckte. Von dem man wusste, dass es dereinst in die Hölle kommen würde. Das nicht wenige sich am liebsten gegriffen hätten. Die Frauen, um ihr das Gesicht zu zerkratzen, ihr die Haare auszureißen, sie buchstäblich durch den Dreck zu ziehen, damit jeder schon von weitem am Geruch erkannte, um was für eine es sich da handelte. Die Männer, um sie ins schattige Gebüsch zu zerren, ins kratzige Heu, unter die knirschenden Maisstauden, um es mit ihr zu treiben.
Die Sünde meiner heranwachsenden Mutter bestand vor allem darin, dass sie schön war und dass diese Schönheit in jener Gegend geradeso fremd war wie ein buntgefiederter Vogel, der eines Tages unter Amseln und Spatzen auftaucht. Meine strohblonde Mutter hatte nichts von der bäuerlichen Stämmigkeit der zumeist dunkelhaarigen Frauen im Ort. Ihre Bewegungen hatten nichts Gleichmäßiges, Behäbiges, vielmehr etwas Verträumtes, das ohne erkennbaren Anlass in eine schmollende Gereiztheit umschlagen konnte, die ihr der Vater hin und wieder mit der flachen Hand förmlich aus dem Kopf schlug. Dann richteten sich ihre quer gelegten Gesichtszüge augenblicklich gerade und fügten sich wie der ganze Körper eine Zeitlang in das Räderwerk aus »arbeiten und Mund halten«, das ihre Umgebung kennzeichnete. So lange, bis wieder Verträumtheit und Trotzigkeit von ihr Besitz ergriffen, was umso öfter geschah, je älter sie wurde. Ohrfeigen und anderen Züchtigungen gegenüber stumpfte sie auf eine Weise ab – gerade, dass sie dabei nicht grinste –, dass ihr Vater es irgendwann mit dem Bestrafen sein ließ und sich in Gedanken schon mit dem Weggang seiner Tochter abzufinden begann, deren größtes Versäumnis in seinen Augen wohl darin bestand, kein Sohn geworden zu sein.
Ein Zaun aus trockenem, splitterigem Holz umgab unseren Hof, der nie geölt oder lackiert worden war. Man brauchte nur einen Blick auf diesen Zaun zu werfen, um zu wissen, wie es um den Hof stand. In der Nähe des Eingangs – zwischen Scheune und Tor – stapelten sich gut ein Dutzend massiver Holzbalken, einige davon mehrere Meter lang. Die Balken waren Wind und Wetter über Jahre ausgeliefert, keine Plane bedeckte sie, kein Versuch würde je unternommen, sie ihrem ursprünglichen Zweck zuzuführen. Sie sollten zur Reparatur des Dachstuhls der Scheune dienen, zu der es jedoch nie kam, seit mein Großvater die Forstwirtschaft aufgegeben, den Wald verkauft und sich ganz dem Nichtstun verschrieben hatte. Die Balken lagen immer noch am selben Platz, an dem sie Jahre zuvor abgeladen worden waren.
Auf diesen Stapel Holzbalken soll sich meine Mutter im Alter von siebzehn Jahren einmal gestellt und zu den Männern hinübergeblickt haben, die im Gastgarten des Wirtshauses gegenüber saßen. Ob man es glaubt oder nicht: Die Geschäfte des Wirtshauses gingen nicht zuletzt deshalb so gut, weil man vom Gastgarten aus einen guten Einblick auf unseren Hof hatte, auf dem am Nachmittag, wenn sie von der Handelsschule nachhause gekommen war, meine Mutter meiner Großmutter beim Hühnerfüttern, Melken und Stallausmisten zur Hand ging. Es handelte sich um eine schweißtreibende Arbeit, nicht zuletzt im Sommer, wenn die Temperaturen auf 35 Grad kletterten. Meine Mutter war spärlich bekleidet. Sie trug eine Schürze, darunter ein T-Shirt oder – wie meine Großmutter – nur einen BH. Sie bückte sich, streckte sich, ein Schweißfilm bildete sich auf der Haut. In den Augen der Männer, die vom Wirtshaus herübersahen, spielte sich eine Szene ab, nicht unähnlich jenen Videos, in denen eine junge Frau in T-Shirt und Hotpants – mit einem Schwamm, einem Reinigungsmittel und einem Kübel Wasser bewaffnet – sich daranmacht, ein Auto zu waschen. Sie verrenkt sich, ihr T-Shirt ist bald durchnässt, sodass sich die Brustwarzen abzeichnen, Wasser rinnt ihre Schenkel hinunter. Man gewinnt den Eindruck, dass sie sich nicht nur jener Menge anonymer Augenpaare darbietet, die sich das Video ansehen, sondern dass sie gleichzeitig mit dem Auto Sex hat, derart turnt sie auf ihm herum und liebkost es mehr, als dass sie es wäscht.
Die Männer im Gastgarten pfiffen, johlten und machten obszöne Bemerkungen. Meinen Großvater – so er nicht selbst unter ihnen saß und Karten spielte – kümmerte das nicht weiter. Meine Großmutter
Weitere Kostenlose Bücher