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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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weckt. Diese Form der Übertragung kann – gleichgültig, wie illusorisch oder offensichtlich sie ist – im Idealfall bewirken, dass man dem Bild nahezukommen versucht, das der andere von einem hat. Dass man die bessere – liebevollere, mutigere, großherzigere – Ausgabe seiner selbst imitiert, die plötzlich im Raum steht, um für kurze Zeit eins mit ihr zu werden. Ob das nun sinnvoll oder lediglich eine menschliche Schwäche ist, sei dahingestellt. Auf jeden Fall bringt es Schwung in den alltäglichen Trott, das sattsam bekannte Repertoire der eigenen Verhaltensweisen. Wer einer Frau noch nie die Tür aufgehalten hat – der tut es. Wer seine Freundin ewig hingehalten hat mit dem Besuch des Tanzkurses – der besucht ihn. Selbstverständlich gibt es auch das andere: dass man sich an dem Bild, das der andere von einem zeichnet, abarbeitet, es jedoch nicht schafft, ihm zu entsprechen, und darüber allmählich einen Hass auf den anderen entwickelt.
    Draußen wurde es langsam hell. Ich ging zurück. Sabine empfing mich lächelnd. Sie hatte den Lidstrich nachgezogen und den Lippenstift neu aufgetragen. Ich dachte an jenen Abend, als wir uns nach einer langen Nacht in einem Hauseingang ein zweites Mal aufeinander stürzten. Diesmal war es Sabine gewesen, die im letzten Augenblick von mir abgelassen hatte und davongerannt war. Ich hatte schon damit gerechnet, dass es das gewesen war, als sie sich ein paar Tage später bei mir meldete und so tat, als wäre nichts geschehen.
    Wir prosteten einander zu, und ehe ich michs versah, küsste ich sie auf den Mund. Ich wollte mich sogleich dafür entschuldigen, aber sie erwiderte meinen Kuss. Er schmeckte nach all den Versäumnissen und Missverständnissen, die dem ersten gefolgt waren. Er war jedoch prickelnd genug, dass ich einen Augenblick lang sogar für möglich hielt, woran ich längst nicht mehr glaubte: dass der Zug für uns noch nicht abgefahren war.
    »Zigarette?«
    »Seit wann rauchst du?«, fragte ich.
    »Seit heute«, antwortete sie, griff nach ihrer Tasche und kramte eine verschweißte Packung Gauloises daraus hervor.

 
     
    Schattenbilder sind es, womit wir uns wappnen und womit wir einander bezahlen.
    Montaigne, Essais III , v

Die Halbschwester
    »Wann fährst du?«
    In der Frage meiner Mutter schwingt die Hoffnung mit, ich wäre noch unentschlossen und wüsste noch nicht, wann ich fahre und ob überhaupt. Noch habe ich in ihren Augen Zeit genug, einen Fehler zu vermeiden, mich zu besinnen. Dass ich keine große Hoffnung damit verbinde, mich mit meiner Halbschwester zu treffen, stört sie in ihrer Argumentation nicht.
    »Morgen schon?«
    Ihrer Stimme ist jetzt eine gewisse Enttäuschung anzuhören. Sie sieht sich wieder einmal damit konfrontiert, dass ich ihre Sichtweise einfach nicht zu der meinen machen will. Das war schon immer so – was nicht bedeutet, dass sie sich jemals damit abgefunden hat.
    »Halbschwester!«
    Sie betont die zweite Hälfte des Wortes so, dass es abfällig klingt. »Was für eine Schwester, bitte sehr? Jedes Mädchen, mit dem du gut befreundet bist, hat mehr Recht, sich als deine Schwester zu bezeichnen, als diese Fremde.«
    Ganz abgesehen davon, dass diese Behauptung absurd ist: Meine Mutter nennt meine Freundinnen und weiblichen Bekannten immer noch Mädchen, auch wenn ich längst nicht mehr achtzehn bin, sondern beinah doppelt so alt, und die vermeintlichen Mädchen etwa in meinem Alter sind oder ein paar Jahre jünger. Lerne ich jemanden kennen, fragt sie mich immer, wann ich sie denn einmal mit nachhause bringe – als ginge ich noch zur Schule und bewohnte mein Kinderzimmer, das sie inzwischen zu ihrem Schlafzimmer umfunktioniert hat. Den meisten Raum darin nimmt ihr zwei Meter breites Doppelbett ein, über das sie nach dem Aufstehen eine Tagesdecke mit einem in verschiedenen Blautönen gehaltenen Blumenmuster wirft. Da sie schon seit Jahren keinen festen Freund mehr hat und sich den Männern mit zunehmendem Alter noch mehr entzieht als früher, wirkt es wie ein Relikt aus vergangenen Tagen, erinnert an Versprechen, die letztlich nicht erfüllt wurden.
    Ich bin mit neunzehn von zuhause ausgezogen, die Anzahl der Jahre, in denen ich Mädchen mit nachhause brachte, lässt sich an den Fingern einer Hand abzählen. In der Zeitrechnung meiner Mutter hält dieser Zustand jedoch seit fünfzehn Jahren an und wird es vielleicht die nächsten fünfzehn Jahre auch noch tun.
    »Ich weiß gar nicht, worüber du dich so aufregst«, sage ich

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