Das fuenfunddreißigste Jahr
tue ich!«, erwiderte sie und machte Anstalten, aufzustehen. »Das tue ich. Jawoll!«
Es kam, wie es kommen musste. Sie strauchelte, drohte hinzufallen, und wäre in meinen Armen gelandet, wenn ich rechtzeitig reagiert hätte, anstatt ihr bei ihrem Taumeln zuzusehen, das gleichzeitig nervig und sexy war. Ich berührte sie noch am Arm, bevor sie am Teppichboden aufschlug.
Sie lag auf dem Bauch, wimmerte und vergrub ihr Gesicht zwischen beiden Armen. Ich packte sie am linken Oberarm, zuerst zögernd, dann forsch, und versuchte sie dazu zu bringen, sich umzudrehen.
»Na komm.«
»Lass mich! Lass mich!« Sabine hatte nicht mehr genug Kraft und Willen, sich in ihre Gegenwehr zu verbeißen. Unverwandt sah sie mir ins Gesicht. »Und? Was jetzt?«
Die Tränen hatten ihr Make-up verwischt, nicht jedoch ihren Blick getrübt. Im Gegenteil: Gerade dass ich nicht die Augen niederschlug vor so viel Selbstentblößung.
»Jetzt? Jetzt trinken wir noch was!«
Ich wollte aufstehen, als sie, die soeben noch am Boden gelegen war, zu mir herüberschwappte wie Wasser aus einem Eimer, der umgestoßen wurde. »Nicht fortgehen.« Sie hielt plötzlich meine Hand. »Nicht fortgehen.«
Ich spürte, dass ich in jenem Moment besser nachhause fahren hätte sollen. »Keine Angst. Ich geh nicht fort«, sagte ich stattdessen. »Ich hol uns nur was zu trinken.«
Als ich mit zwei Whisky Sour zurückkam, saß sie auf dem Sofa. Mein fingierter väterlicher Blick sagte mir: Sie war nun nicht mehr die behütete Tochter, wie ich sie vorhin zu Bett gebracht hatte, sondern eine, die zu früh erwachsen geworden war. Sie hatte wieder die Beine angezogen und umfing sie mit ihren Armen. Ihr Kopf ruhte auf ihren Knien, ihr Blick begleitete jede meiner Bewegungen. Gleichzeitig machte sie den Eindruck, mit ihren Gedanken woanders zu sein, all das schon mal gesehen oder erlebt zu haben. In diesem Augenblick hatte sie für mich etwas von einem Engel. Engel, so hieß es, waren die einzigen Wesen, die sowohl Gott als auch seinen Geschöpfen ins Angesicht sahen. Ich hatte diesen Zustand immer schon weniger als Auszeichnung denn als Zumutung empfunden. Es hatte weniger etwas Heroisches – die Art, wie Engel meist dargestellt wurden – als etwas zutiefst Erschöpfendes.
Sie nippte an ihrem Whisky, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen.
»Der hat natürlich keine Bar-Qualität«, sagte ich und versuchte, das darauf folgende Schweigen mit Nebensächlichem wie dem Unterschied zwischen geriebenen Zitronen- und Limettenschalen auszuschmücken – ein Versuch, den ihr salziges Lächeln umgehend zunichtemachte.
»So ist es eben«, bemerkte sie, als spräche sie von etwas Allgemeingültigem, das ihr nichtsdestotrotz gerade erst aufgegangen war. »Du hast mich damals ja auch nicht gewollt.«
Ihre Worte waren wie Stich und Kuss zugleich. Obwohl ich es inzwischen gewohnt war, dass sie es gerne hervorkramte, wenn sie sich zurückgesetzt und ungeliebt fühlte, war ich doch immer wieder überrascht, dass unser Aufeinandertreffen ihr inzwischen als das Ereignis erschien, von dem – was Männer betraf – alles Übel seinen Ausgang genommen hatte. Als erster Dominostein, der – einmal umgeworfen – unweigerlich den Fall aller anderen Steine zur Folge hatte. Unnötig zu sagen, wie grob vereinfachend, ja aberwitzig diese Sicht war.
Wir hatten uns an der Universität kennengelernt. Sabine betrieb ihr Studium lustlos, war aber dennoch ehrgeizig. Der Beruf, der als Auffangbecken für diesen Ehrgeiz dienen sollte, würde sich im weiteren Verlauf schon herauskristallisieren, zumindest hoffte sie das. Es musste sich doch auch mit dem Jusstudium etwas anfangen lassen, das einen weniger zu starren Paragrafen als zum Leben hinführte (erst später bemerkte sie, wie beweglich und formbar, ja menschlich Paragrafen waren, und welch lebhafte Auseinandersetzungen der Streit um sie zeitigen konnte).
Ich stand vor meiner Diplomprüfung und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter stundenweise in einem eigenen Büro im Kellergeschoß des Institutsgebäudes.
Anfangs nahm ich sie nur am Rande wahr. Um die Wahrheit zu sagen: Es war zuerst ihr Hintern, dann ihre Augen, die mich genauer hinschauen ließen. Wenn sie einen ansah – oft, wie mir vorkam, einen Tick zu lang –, lag in ihrem Blick etwas Ambivalentes, er war zurückhaltend und herausfordernd zugleich. Vor allem für einen Mann Mitte zwanzig, der – wie ich – Räume noch danach unterschied, ob sich Frauen darin aufhielten
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