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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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seine Abende im Gasthaus, meine Mutter war fort, ich war der Einzige, der ihr geblieben war – und auch in meinem Fall war es nur eine Frage der Zeit, bis meine Mutter mich zu sich nahm.
    Stefan hatte mehr Glück als seine Brüder. Seine Adoptiveltern betrieben ein Gasthaus. Auch er musste ihnen von klein auf zur Hand gehen, wo es nötig war, was in seinem Fall jedoch nicht nur eine Fron, sondern auch ein Vergnügen darstellte, da seine Adoptiveltern lebensfrohe, gesellige Menschen waren, vor allem der Vater, der immer für einen Witz gut war. Während Alois nicht am selben Tisch sitzen durfte wie die leiblichen Kinder seiner Pflegeeltern, sondern beim Gesinde sitzen musste, ließ Stefans Vater ihn nie spüren, dass er nicht sein leiblicher Sohn war, und unterstützte ihn sogar, als er sich dagegen entschied, das Gasthaus der Eltern zu übernehmen, und stattdessen das Abitur nachholte, um sich seinen Lebenstraum zu erfüllen und Medizin zu studieren, um Arzt zu werden – ein Traum, der schließlich Wirklichkeit wurde. Stefan war derjenige unter den Geschwistern, der die glücklichste Kindheit gehabt und es am weitesten gebracht hatte – eine Tatsache, an der sich immer wieder Streit entzündete, wenn sich die Geschwister trafen. Vor allem die beiden Brüder konnten sich nur schwer damit abfinden, wie ungerecht das Leben ihnen mitgespielt hatte. Beide hatten durchaus etwas aus sich und ihrer misslichen Lage gemacht: Alois hatte einen leitenden Posten bei der Verwaltung des Tauerntunnels inne, Wolfgang war Förster in der Gegend geworden, in der er aufgewachsen war. Zum Unterschied von Stefan hatten sie jedoch – nicht anders als meine Mutter – das Gefühl, keine Wahl gehabt zu haben. Es kam ihnen so vor, als wäre ihnen ihr Leben aufgedrängt worden und sie hätten sich angesichts des größeren Übels gerade mal für das kleinere entscheiden können, was angesichts der Möglichkeiten, die Stefan vorgefunden hatte, nichts als ein Hohn war.
    »Der Stefan hat leicht reden. Der hat’s als Einziger von uns gut gehabt. Ich wäre auch lieber bei einer Pflegefamilie aufgewachsen, die mich derart unterstützt und darauf schaut, dass aus mir mal was Gescheites wird. Der Opa hat mir ja gerade mal die Handelsschule durchgehen lassen. Schon die war ihm ein Dorn im Auge, weil ich nicht mehr so viel arbeiten konnte wie vorher. Die Hausaufgaben habe ich immer erst spät in der Nacht machen können, wenn mir schon die Augen zugefallen sind. Ich muss sagen, da hat mir die Oma sehr geholfen. Sie bestand darauf, dass ich eine Ausbildung habe. Das war das einzige Mal, dass sie dem Opa widersprochen und sich gegen ihn durchgesetzt hat.«
    »Du hättest später ja auch die Matura nachholen und studieren können. Immerhin bin ich die ersten Jahre bei Oma und Opa gewesen, du hättest also durchaus Zeit gehabt.«
    »Danke, Schlaumeier. Wenn dich nie jemand unterstützt, wenn du von zuhause nie Zuspruch erhältst, keiner daran interessiert ist, dass aus dir etwas wird, dann ist so was sehr schwer. Einfach, weil dir das Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten fehlt. Wenn ich einen Vater gehabt hätte wie der Stefan, dann hätte ich auch an mich geglaubt. Aber so … Warum wohl habe ich dich ins Gymnasium gesteckt? Ins beste noch dazu. Damit du die Chance hast, die ich nie gehabt habe. Schade nur, dass du sie offenbar nicht zu nutzen verstehst. Zumindest nicht so, wie es deinen Fähigkeiten entspricht. Ich habe meinen Wert nie gekannt, du hingegen verkaufst dich unter Wert.«
    Kinder sollen immer jenes Leben leben, das bereits ihre Eltern gelebt haben – oder aber jenes, das ihren Eltern vorenthalten wurde, aus welchen Gründen auch immer. Verweigern sich die Kinder oder scheitern daran, leiden die Eltern nicht nur wegen ihrer Kinder, sondern auch ihrer selbst wegen.
    Zu Beginn war meine Mutter von Stefan beeindruckt gewesen. Sein Schwung, der Optimismus, den er an den Tag legte, waren in Ansätzen auch an ihr erkennbar. Auch die Zähigkeit, wenn sie sich einmal in etwas verbissen hatte. Eine Bergbäuerin, die einmal wegen eines Bagatelldelikts im Anwaltsbüro aufgetaucht war, in dem sie damals arbeitete, war nach dem Tod ihres Mannes in Not geraten und hatte kurzfristig Probleme, ihr Vieh so günstig wie möglich schlachten zu lassen und das Fleisch gewinnbringend zu verkaufen. Obwohl der Hof der Bäuerin 150 Kilometer entfernt lag, organisierte meine Mutter sowohl die Schlachtung des Viehs als auch den Verkauf des Fleisches, indem sie

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