Das fuenfunddreißigste Jahr
all ihren Freunden und Bekannten, ja sogar manchen Klienten den Kauf des – gemessen an handelsüblichen Preisen – überteuerten Fleisches auf liebenswürdigste Weise aufzwang.
»Stimmt schon. Für andere hab ich mich immer eingesetzt. Aber für mich … Mir was Gutes zu tun, das hab ich nie gelernt. Etwas, das der Seele guttut, nicht irgendein Firlefanz. Was nützt dir schon ein Pelz, wenn du unglücklich bist? Dann frierst du halt nicht wegen der niedrigen Lufttemperatur, sondern aus einem anderen Grund.«
Man mochte meinen, dass Stefan allen Grund hatte, wenn schon nicht glücklich, so doch zumindest sehr zufrieden zu sein. Als Arzt war er derart gefragt, dass es eine Liste gab, in die sich zukünftige Patienten eintrugen, um geduldig darauf zu warten, dass sie irgendwann an die Reihe kamen und von ihm untersucht wurden. Er hatte eine dreizehn Jahre jüngere Frau, um die er beneidet wurde, und zwei Kinder, die ins Gymnasium gingen. Seine Leidenschaft gehörte schnellen Autos, in seiner Garage standen neben einem Range Rover, mit dem er Hausbesuche auf entlegenen Gehöften machte, ein Aston Martin und ein Porsche. Sein Leben war, als würde man ein Bilderbuch aufschlagen, um dort Schlaglichter einer ebensolchen Karriere zu bestaunen.
Verrückt, dass gerade beim Anblick des Bilderbuchs, das doch angelegt worden war, sein Glück zu demonstrieren, sein Unglück offenbar wurde – sein ganz persönliches wie das der Geschwister insgesamt. Ich bin meinem Halbonkel nicht mehr als viermal begegnet. Mich überkam bald das Gefühl, die Zurschaustellung seines Glücks wäre nichts als eine Theatervorstellung, in der den übrigen Geschwistern die Rolle von Zuschauern zukam, die am Ende zu applaudieren hatten – womit vor allem Alois schwer zu kämpfen hatte. Er sah keine andere Möglichkeit, sich zu wehren, als ausgiebig dem Alkohol zuzusprechen und die Vorstellung so konsequent zu stören, dass es einmal sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen den beiden kam.
Stefans Auftreten hatte etwas Ferngesteuertes: Irgendwo vermutete ich einen Knopf, mit dem man sein gewinnendes Lächeln, seine übertriebene Großzügigkeit, das Wegwischen der kleinen und großen Probleme der anderen abstellen konnte. Er wollte so sehr an sein Glück und seinen Erfolg glauben, war dabei jedoch so abhängig davon, andere an den sichtbaren Verkörperungen dieses Erfolgs Anteil haben zu lassen – das neue Auto, die neue Sauna, die neue Frau –, dass jemand, der wirklich zufrieden in sich ruhte, wohl nur Mitleid mit ihm empfinden konnte.
Als ich jung war, hielt ich ihn für einen Angeber. Er spürte meinen Widerstand, versuchte mich für sich zu gewinnen, indem er mich auf Fahrten in seinem Aston Martin mitnahm, mir ein teures Paar Ski schenkte. Ich wertete diese Aufmerksamkeiten als Bestechungsversuche und fand mich in meiner Ablehnung ihm gegenüber bestärkt.
Als ich älter wurde und mir darüber Gedanken machte, warum die Gegenwart meiner Mutter einen derart unlösbaren Knoten mit ihrer Vergangenheit bildete, begriff ich, dass es sich bei Stefan, ja bei allen Geschwistern genauso verhielt. Ihre Herkunft bildete eine offene Wunde, die jeder auf seine Weise zu schließen oder wenigstens zu verdecken suchte – vergeblich. Meine Mutter erzählte mir, dass Stefan schon immer herausfinden wollte, wer seine leiblichen Eltern waren. Obwohl er seine Adoptiveltern als seine wahren Eltern empfand, trieb ihn dieser Wunsch um. Als er den Posten eines Gemeinderates innehatte, sah er die Möglichkeit, Einblick in Akten zu nehmen, die ihm ansonsten verschlossen geblieben wären. Er fand den Namen seines Vaters und seiner Mutter heraus und – in weiterer Folge – die Namen der Familien, die jene Kinder seines Vaters bei sich aufgenommen hatten, von denen die Behörden wussten. Glaube ich den Worten meiner Mutter – was ich nicht immer tue, weil ihre Version mancher Episoden aus ihrem Leben nicht immer mit den Aussagen anderer, ihr wohlgesonnener Zeugen übereinstimmt –, so hat Stefan seinen leiblichen Vater – meinen Großvater – einmal besucht. Am Ende des Treffens soll es zu folgendem Vorfall gekommen sein: Auf Stefans Frage, ob er an einem weiteren Treffen interessiert sei, soll mein Großvater nicht geantwortet haben. Stefan ließ sich nicht entmutigen: Ob er ihm denn etwas mit auf den Weg geben könnte? Ein Wunsch, der sicher weniger auf etwas Materielles als auf etwas Emotionales zielte. Großvater habe ihn lange angesehen, eigentlich eher
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