Das fuenfunddreißigste Jahr
zu ihr. »Nie hat die Fremde, wie du sie nennst, sich als meine Schwester bezeichnet, noch mich als ihren Bruder. Sie wollte ursprünglich nur wissen, ob die Möglichkeit besteht, dass wir denselben Vater haben. Wenn ja, wäre ich eben ihr Halbbruder.«
»Was erzählst du mir das? Ich bin ja nicht blöd. Ich habe ja gelesen, was sie geschrieben hat.«
Durch den Hörer spüre ich, wie ihre Lippen beim Sprechen schmaler werden, ihre Augen angriffslustig funkeln.
»Du hast doch von der Existenz deiner Brüder auch erst mit vierzig erfahren, oder nicht? Gut, euer Verhältnis zueinander ist nicht gerade einfach, aber zumindest in einem Fall bist du doch froh darüber, dass es so gekommen ist.«
Das sitzt.
Meine Mutter schwelgt in ihrer Vergangenheit, auch in ihren unschönen Seiten, was jedoch nur denjenigen überrascht, der sie nicht näher kennt. Sie gehört nicht zu jenen Menschen, die vergessen, ein für alle Mal ihren Frieden machen wollen mit dem, was war. Wenn ich sie darauf anspreche, nimmt sie es mir übel. Nur ihr selbst ist es erlaubt, in ihren sorgsam konservierten Wunden herumzustochern. Tut es ein anderer, empfindet sie es als grausam, selbst wenn er nur einen Blick darauf wirft.
»Du weißt, dass man mich nicht gefragt hat. Ob ich überhaupt Geschwister wollte, stand nie zur Diskussion. Um ehrlich zu sein: Besonders scharf war ich nicht darauf. Stefan stand eines Tages einfach vor meiner Tür. Er hatte ein strahlendes Lächeln, dazu einen Strauß Blumen in der Hand. Im ersten Moment habe ich ihn für einen besonders forschen Verehrer gehalten. Bis er auf einmal gesagt hat: Hallo, was ich dir jetzt sage, hört sich vielleicht verrückt an, aber glaub mir, es ist wahr. Ich bin dein Bruder.«
Sie sagte, sie wäre im ersten Moment viel zu perplex gewesen, um die Tragweite des letzten Satzes zu verstehen. Oder um ihren Halbbruder davon abzuhalten, sie kurz und heftig zu umarmen und ihre Wohnung zu betreten, ohne darauf zu warten, dass sie ihn hineinbittet.
»Nett hast du’s hier. Klein, aber fein. Kaum, dass er das gesagt hat, hat er sich auch schon die Jacke ausgezogen, als ob es das Normalste auf der Welt wäre.«
Von Stefan erfährt meine Mutter, dass sie zwei weitere Halbbrüder hat, Alois und Wolfgang. Sie ist die Jüngste von vier Geschwistern, die alle denselben Vater, aber verschiedene Mütter haben und an verschiedenen Orten aufgewachsen sind, ohne voneinander zu wissen. Meiner Mutter ist als Einziger das – was den Vater betrifft – zuweilen zweifelhafte Glück zuteilgeworden, bei ihren leiblichen Eltern aufzuwachsen. Die anderen sind – da ungewollt, unehelich und in ärmste Verhältnisse hineingeboren – zur Adoption freigegeben oder bei sogenannten Pflegefamilien groß geworden. Wobei das Wort Pflege ein äußerst dehnbarer Begriff ist, der bestenfalls Liebe beinhalten kann, manchmal aber über die Garantie der bloßen Lebenserhaltung nicht hinausgeht. Alois und Wolfgang kamen bei Bauern unter, für die sie von Anfang an nichts waren als billige Arbeitskräfte. Das Verhältnis zu ihren Pflegeeltern war dasjenige von Arbeitnehmern zu Arbeitgebern, ja im Grunde waren sie die Knechte, die Eltern die Herren. Meine Mutter musste auf dem Hof ebenfalls von Kindesbeinen an mit anpacken, vor der Schule, nach der Schule, vor dem Zubettgehen. Dennoch behandelte sie mein Großvater, solange sie ihre Arbeit tat und sich an seine Regeln hielt, nicht besser oder schlechter als irgendjemand anderen, ja manchmal, wenn sie eine Zeitlang besonders schwer zu schuften hatte, ließ er ihr sogar das eine oder andere durchgehen, etwa, dass sie nach der Schule mit ihren Freundinnen baden ging. Von meiner Großmutter wusste sie sich umsorgt und geliebt – wenn auch auf eine eifersüchtige Weise, die es ihr neben der Strenge meines Großvaters zusätzlich schwermachte, ihr Leben zu leben und den einer Heranwachsenden entsprechenden Freuden nachzugehen. Meine Großmutter war neben meinem Großvater vereinsamt, also trachtete sie danach, ihre Tochter so eng wie möglich ans Haus zu binden. Nicht anders hielt sie es später mit mir. Immer wieder machte sie sich am frühen Abend auf die Suche nach mir, je später es wurde und je länger sie mich nicht fand, desto wütender wurde sie. Wenn sie mich schließlich aufstöberte – manchmal hatte ich mich regelrecht vor ihr versteckt –, zerrte sie mich entschlossen von meinen Freunden weg. Aller Protest, alle Tränen meinerseits halfen nichts. Großvater verbrachte
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