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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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gemustert oder gewogen. Ich kenne Großvaters Blick gut, in ihm vereint sich die glasige Unschärfe, die übermäßiger Schnapskonsum hervorruft, mit der scharfen Klarheit, die man mit diesem Getränk substanziell in Verbindung bringt. Nach einer Weile soll sich mein Großvater seine Uhr vom Handgelenk gezogen haben, eine Uhr, die er schon trug, als meine Mutter noch bei ihren Eltern lebte. Ihren silbernen Glanz verdankte sie der Tatsache, dass meine Großmutter sie regelmäßig polierte. Sie hatte ein elastisches Armband, das sich dem Umfang des Handgelenks anpasste. Das Zifferblatt, das einmal weiß gewesen war, war über die Jahre vergilbt. Daraufhin soll er die Uhr seinem Sohn mit den Worten überreicht haben: »Da. Mehr gibt’s nicht.«
    Ich kann mir Stefans Gesicht nur insofern vorstellen, als ich mich an mein eigenes oder das anderer Mensch erinnere, die sich mit der kurz angebundenen Schonungslosigkeit meines Großvaters konfrontiert sahen. Stefan nahm nie wieder Kontakt zu seinem Vater auf. Dennoch soll er meiner Mutter zufolge in einem Wandsafe neben wichtigen Dokumenten, seiner Goldmünzsammlung sowie den wertvollsten Schmuckstücken seiner Frau auch diese Uhr aufbewahrt haben – als stellte sie etwas ebenso Kostbares, wenn nicht gar Kostbareres dar als der Aston Martin in seiner Garage.
    Ich hätte die Uhr wahrscheinlich im selben Augenblick weggeworfen, wenn mein Vater sie mir überreicht hätte.
    »Ja, du.« Meine Mutter klingt verbittert, würzt diese Verbitterung jedoch mit einem Hauch Polemik, da ihr der Zustand der Verbitterung dann doch zu passiv, zu schwach erscheint, um ihn mit sich selbst in Verbindung bringen zu wollen. »Du machst dir ja auch nichts aus Familie. Dir ist das ja alles egal. Anderen jedoch nicht.«
    Diese Sätze wären vielleicht dazu angetan, mich zum Nachdenken zu bringen – wenn ich sie ernst nehmen müsste. Meiner Mutter ist ihre Familie, insofern sie ihr nicht das Fundament für alles liefert, was später in ihrem Leben schieflief, ebenso egal. Sie sieht sich schon lange – und das mit einem grimmigen Wohlwollen – als Einzelkämpferin, der nichts im Leben geschenkt wurde. Sie will mir mit ihren Worten lediglich zu verstehen geben, dass ich mich zu wenig um sie kümmere. Sie vertritt die Meinung, dass wir nur uns beide haben, gewissermaßen seit jeher eine Schicksalsgemeinschaft darstellen. Dass ich die ersten Jahre bei meinen Großeltern verbracht habe; dass ich während der Volksschule bei einer Pflegemutter untergebracht war; dass sie mich später ins Internat gegeben hat – all das übergeht sie geflissentlich, wenn sie an uns beide denkt und darüber sentimental wird. Bis zu einem bestimmten Punkt hat sie sogar recht. Dennoch ist diese Nähe nichts, was wir mit unseren Herzen gestaltet, was wir dem Leben gleichsam abgerungen haben. Vielmehr handelt es sich um eine aufwendige und langanhaltende diplomatische Unternehmung zum Zwecke der Deeskalation und zur Förderung des Verständnisses füreinander. Diese Unternehmung wird das karstige Terrain unserer Selbstbezogenheit nicht in blühende Landschaften verwandeln, aber einzelne Früchte da zu ernten, wo vorher nur gefühlter Fels war, ist uns immerhin gegönnt.
    »Ach, du bist ja so erhaben. Du weißt ja über alles so wunderbar Bescheid. Du müsstest eigentlich im Fernsehen auftreten und wöchentlich eine Rede zur Lage der Nation halten.«
    Meine Mutter ist stolz auf meine humanistische Bildung, mein Studium – die eine oder andere Nebenwirkung dieser Bildung verunsichert sie geradeso wie die Nebenwirkungen eines Medikaments. Meine arrogante Attitüde, die meine Meinung im Gewand eines Urteils erscheinen lässt, verabscheut sie regelrecht. Vielleicht habe ich diese Attitüde überhaupt nur deshalb derart ausgebildet, weil mir die Wirkung auf meine Mutter gefallen hat, die immer unglücklich über ihre mangelnde Bildung war. Im Unterschied zu früher, als ich meine rhetorische Überlegenheit wie einen Pfeil auf sie abschoss, werfe ich sie ihr heute wie einen Ball zu – ein Ball, der hin und wieder eine unvorhersehbare Flugbahn haben kann.
    Stefans Interesse für seine Geschwister, die er doch mit viel Akribie und Beharrlichkeit aufgespürt und zusammengeführt hatte, ließ nach einiger Zeit deutlich nach. Dies hatte auch mit den ständigen Streitereien zu tun, in die er sich verwickelt sah, wenn er mit seinen Brüdern, vor allem mit Wolfgang, zu tun hatte. Wolfgang war im Grunde ebenso stolz auf das, was er aus

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